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Das andere Kind

Titel: Das andere Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Das andere Kind
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bedauerlich. Eine so extrem neugierige und aufdringliche Wirtin wie Mrs. Willerton war
    im Grunde ein Geschenk für einen ermittelnden Polizeibeamten, weil sie über die Menschen ihrer
    Umgebung nur allzu gut und detailliert Bescheid wusste. Dass Mrs. Willerton ausgerechnet den
    entscheidenden Samstagabend hatte verschlafen müssen, konnte man nur als eine böse Laune des
    Schicksals bezeichnen.
    »Können Sie sich an den 1 6. Juli dieses Jahres erinnern?«,
    fragte Valerie.
    Man sah der Wirtin an,
    wie es in ihrem Gehirn arbeitete. »1 6.
    Juli sagen Sie? 1 6.
    Juli?«
    »Das war der Tag,
    an dem Amy Mills ermordet wurde. Von dem
    Fall haben Sie sicher gehört.« Die Wirtin riss die Augen auf. »Hat Mr. Tanner damit etwas zu
    tun?«, flüsterte sie entsetzt.
    »Dafür gibt es derzeit keinen
    Anhaltspunkt«, wiegelte Valerie ab.
    »Sicher wollen Sie wissen, ob er
    an jenem Abend daheim war«, folgerte Mrs. Willerton. Sie blickte geradezu verzweifelt drein.
    »Keine Ahnung. Oh, meine Güte, ich weiß es nicht!«
    »Kein Problem.« Valerie lächelte
    sie freundlich an. »Das liegt drei Monate zurück. Es wäre ein Wunder, könnten Sie sich an
    Details erinnern.«
    »Ich rufe Sie an, wenn mir etwas
    einfällt«, versprach Mrs. Willerton. Reek reichte ihr seine Karte. Die Frau nahm sie mit
    zitternden Händen entgegen.
    Valerie versprach sich nicht
    allzu viel davon. Mrs. Willerton war alt, einsam und gelangweilt. Wahrscheinlich würde sie
    Informationen nachreichen, aber diese mussten mit größter Skepsis behandelt werden. Vielleicht
    würde sie nichts erfinden, aber sie würde Begebenheiten und Vorkommnisse unter größter
    Strapazierung des Wahrheitsbegriffs ausschmücken. Sie sehnte sich nach Aufmerksamkeit, danach,
    wichtig zu sein und Bedeutung zu erlangen. Tanner würde von nun an ihr Opfer sein.
    Valerie und Reek traten auf die
    Straße. Der Tag war erneut von besonderer Schönheit. Er versprach noch einmal richtig warm zu
    werden.
    »Und nun?«, fragte
    Reek.
    Valerie sah auf ihre Uhr. »Zur
    Beckett-Farm«, sagte sie.
    Sie starrte auf das Telefon,
    wartete, dass es klingelte, und wusste zugleich, dass es tödlich war, auf das Klingeln eines
    Telefons zu warten. Sie lauschte auf die Geräusche der Wohnung: das leise Brummen des
    Kühlschranks in der Küche, das Ticken einer Uhr, das Tropfen eines Wasserhahns, der nicht
    richtig zugedreht war. In der Wohnung über ihr ging jemand herum, dann und wann knackte leise
    eine Bodendiele. Draußen über der Bucht wartete der Spätsommer noch einmal mit allem auf, was
    er zu bieten hatte, goss sein Licht über die Wellen, ließ das Laub an den Bäumen in den
    Esplanade Gardens in allen Farben aufflammen. Der Himmel war von einem kalten, überklaren Blau.
    Im Radio hatte es am Morgen geheißen, man solle diesen Tag genießen. Es standen Regen und Nebel
    bevor.
    Leslie versuchte zu begreifen,
    dass ihre Großmutter tot war.
    Dass sie nie wieder in diese
    Wohnung zurückkehren würde.
    Dass alles,
    was sie hier um sich herum sah, die vertrauten Möbel, die Bilder an den Wänden, die Vorhänge,
    ein achtlos auf einen Sessel geworfener Pullover, Relikte waren, Gegenstände, die
    zurückgelassen worden waren, irdisches Hab und Gut, das für die, der es einmal gehört hatte,
    keine Rolle mehr spielte. Es war unfassbar, weil Fionas Leben in allem und jedem noch immer zum
    Ausdruck kam. Ihr Lieblingskäse im Kühlschrank, die vielen auf Vorrat gehorteten
    Zigarettenpäckchen, die Rosen auf dem Tisch, denen sie selbst zuletzt noch frisches Wa sser gegeben hatte. Die Gummi stiefel unter der
    Garderobe, in denen sie bei Regenwetter immer losgestapft war. Im Bad ihre Zahnbürste, ihr
    Kamm, ihr Föhn. Die wenigen Kosmetika, die sie benutzt hatte.
    Zu nichts von alledem würde
    sie zurückkehren.
    Zu mir wird sie nicht
    zurückkehren, dachte Leslie. Fiona hatte
    Mutterstelle an ihr
    vertreten. Sie hatte Fiona als Mutter empfunden. Sie hatte ihre Mutter nun verloren.
    Als sie sich am vergangenen
    Sonntag in der Nacht in ihrem Bett zusammengerollt und vor Einsamkeit und Kälte geweint hatte,
    war ihre Mutter entweder bereits tot gewesen oder hatte zumindest im Sterben
    gelegen.
    Und sie war nicht im Bett
    gestorben, nicht friedlich gestorben, hatte von niemandem Abschied nehmen können. Ein Irrer
    hatte sie ermordet. Hatte ihr aufgelauert, hatte ihr den Schädel eingeschlagen, hatte sie am
    Grund einer bewaldeten Schlucht liegen gelassen.
    Es war
    unvorstellbar. Es sprengte alle

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