Das andere Kind
Dimensionen des Denkens, alle Dimensionen dessen, was sich
Leslie ausmalen konnte. Sie wusste, dass sie unter Schock stand, denn obwohl sie mit glasklarer
Deutlichkeit begriff, was geschehen war, obwohl sie jedes Wort verstanden hatte, das Detective
Inspector Almond am gestrigen Abend zu ihr gesagt hatte, vermochte das Entsetzen in seiner
ganzen Endgültigkeit noch nicht bis zu ihr vorzudringen. Noch stand eine Wand zwischen ihr und
der ungeheuerlichen Erkenntnis, dass etwas geschehen war, was ihr ganzes weiteres Leben prägen
würde. Den Tod ihrer Großmutter, der einzigen Bezugsperson ihrer Kindheit und Jugend, würde sie
niemals wirklich verarbeiten können. Ihrem Tod würde immer der Gedanke an das Verbrechen,
brutal, wüst und gemein, anhaften. Nie würde sie Fionas Grab besuchen können, ohne an die
letzten Minuten im Leben der a lten Frau denken zu müssen. Es würde nie tröstliche Phrasen geben, wie: Sie hat
nicht gelitten oder: Der Tod war eine
Erlösung für sie oder: Wenigstens ist es
schnell gegangen. Denn das stand fest: Fiona hatte gelitten. Der Tod
war höchstens insofern eine Erlösung gewesen, als er ihr Martyrium in der Gewalt eines
Verbrechers beendet hatte. Und es war nicht schnell gegangen. Sie war von diesem Menschen, wer
immer er war, bis zu der Abgeschiedenheit der Schafweide geschleppt, getrieben, genötigt
worden. Sie musste geahnt haben, was ihr bevorstand. Hatte sie in ihrer Todesangst nach ihrer
Enkelin gerufen?
Aber der Schock hatte
immerhin bewirkt, dass Leslie ein überraschend sachliches Gespräch mit Valerie Almond hatte
führen können. Die Beamtin hatte sie mit schonenden, vorsichtigen Worten vom gewaltsamen Tod
ihrer Großmutter unterrichtet. »Leider habe ich einige Fragen an Sie«, hatte sie schließlich
hinzugefugt, »aber das hat auch Zeit bis morgen.« Leslie hatte wie betäubt auf dem Sofa
gesessen und den Kopf geschüttelt. »Nein. Nein, fragen Sie jetzt. Es ist in
Ordnung.«
Das Gespräch hatte
ihr über die erste Stunde geholfen. Rational, konzentriert und detailliert hatte sie den
Samstagabend geschildert. Es tat ihr gut, ihr Gehirn anzustrengen, sich um die Erinnerung auch
an Kleinigkeiten zu bemühen.
Schließlich hatte sie
gefragt: »Werde ich meine Großmutter identifizieren müssen?«
Valerie hatte
genickt. »Es wäre hilfreich. Zwar besteht kaum ein Zweifel an der Identität der Toten, leider,
aber es würde die hundertprozentige Gewissheit bringen. Im Moment ist sie in der
Gerichtsmedizin, aber ... es wäre gut, wenn jemand Sie dann begleiten könnte. Haben Sie hier in
Scarborough weitere Angehörige?«
Leslie hatte den Kopf
geschüttelt. »Nein. Fiona war meine einzige Angehörige überhaupt.«
Valerie hatte sie
mitfühlend angesehen. »Sie können auch jetzt zu niemandem gehen? Es ist vielleicht nicht gut
für Sie, heute Nacht ganz allein in dieser Wohnung zu bleiben.«
„Ich möchte hier
bleiben. Es wird gehen. Ich bin Ärztin«, fügte sie hinzu, und obwohl ihr Beruf eigentlich für
den Moment keine Rolle spielte, schien Valerie Almond diese Bemerkung irgendwie überzeugend zu
finden.
Valerie hatte gesagt, sie werde am nächsten Morgen zur Beckett- Farm hinauskommen, um
mit den do rtigen Bewohnern zu sprechen. » Das wird gegen zehn Uhr sein. Es wäre gut, wenn Sie dabei
sein könnten. Soll ic h Ihnen einen Wagen schicken?« » Ich werde da sein. Ich komme mit meinem Auto,
danke.«
Die Beamtin
hatte sich verabschiedet, Leslie jedoch noch ihre Karte ausgehändigt mit der Bitte, sich bei
ihr zu melden, falls ihr irgendetwas einfiele, was im Zusammenhang mit der Ermordung ihrer
Großmutter stehen könnte.
„Auch wenn es
Ihnen banal vorkommt«, hatte sie hinzugefügt, „es könnte für uns durchaus von Bedeutung
sein.«
Leslie hatte
auf der Farm angerufen und eine fassungslose Gwen von den Geschehnissen unterrichtet. Gwen
hatte Fragen über Fragen gestellt, ihren Schrecken, ihr Entsetzen bekundet, wieder Fragen
gestellt, so lange, bis Leslie geglaubt hatte, jeden Moment die Nerven zu verlieren und zu
schreien.
» Hör zu, Gwen, du wirst sicher verstehen, dass ich jetzt
etwas Ruhe brauche«, hatte sie die Freundin unterbrochen. » Wir sehen uns morgen, ja?«
»Aber
willst du nicht gleich herkommen? Du kannst doch jetzt nicht allein sein! Ich meine, es ist
nicht gut, wenn ... «
»Bis
morgen, Gwen!« Damit hatte sie den Hörer aufgelegt.
Wie war
die Nacht vergangen? Sie hätte es nicht zu sagen
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