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Das andere Kind

Titel: Das andere Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Das andere Kind
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gewusst. War sie ziellos durch die Räume
    gewandert? Hatte sie auf dem Sofa gesessen und an die Wand gestarrt? Hatte sie auf Fionas Bett
    gelegen, schlaflos, mit weit aufgerissenen Augen? Hatte sie in einem alten Fotoalbum
    geblättert? Undeutliche Bilder gingen ihr am nächsten Morgen durch den Kopf. All das hatte sie
    getan, in dieser schrecklichen Nacht, während die Stunden so langsam und quälend verrannen, als
    wolle es nie wieder Morgen werden. Sie erinnerte sich, dass sie sich irgendwann in ihr Auto
    gesetzt hatte und zu einer Tankstelle gefahren war. Sie war mit einer Flasche Wodka
    zurückgekehrt, und sie hatte eine Menge davon zu sich genommen; sie schämte sich deswegen,
    aber, zum Teufel, weshalb hatte Fiona auch nie den kleinsten Schluck Schnaps in ihrer
    Wohnung?
    Sie
    schaffte es nicht zu frühstücken. Seit dem Abendessen zwei Tage zuvor hatte sie nichts zu sich
    genommen als ein paar Bissen von einer Frikadelle. Dafür Alkohol bis zum Abwinken in sich
    hineingeschüttet. Egal.
    Um halb neun hatte sie es nicht mehr ausgehalten und Stephen im Krankenhaus anzurufen versucht.
    Er sei mitten in einer OP, hieß es, aber man werde Bescheid sagen. Daher saß sie nun vor dem
    Telefon. Zähneknirschend, weil sie sich vor zwei Jahren geschworen hatte, niemals wieder
    Stephens Hilfe, seine Nähe, seine Unterstützung zu suchen. Sie hatte durchgehalten, selbst in
    den schwärzesten, traurigsten Stunden nach der Trennung. Selbst an endlos scheinenden Wochenenden, die sie heulend mit einer
    Weinflasche vor dem Fernseher verbracht und an denen sie sich als den einsamsten Menschen der
    Welt empfunden hatte. Sie hatte gewusst, dass er in ihre Arme zurückgestürzt käme, gäbe sie ihm
    nur das allerkleinste Signal. Aber sie hatte die Zähne zusammengebissen.
    Bis
    heute. Bis zu diesem Ereignis, vom dem sie nicht wusste, wie sie es durchstehen sollte, wenn
    erst die Starre von ihr fiel.
    Das
    Telefon klingelte.
    Sie
    vergaß ihren Stolz und meldete sich sofort. »Ja? Stephen?«
    Von
    der anderen Seite kam nur Schweigen. »Stephen?
    Hier
    ist Leslie.«
    Sie
    konnte hören, dass jemand atmete. »Wer ist denn da?«, fragte sie.
    Atmen.
    Dann wurde aufgelegt.
    Sie
    schüttelte den Kopf, legte ebenfalls den Hörer auf. In der nächsten Sekunde klingelte das
    Telefon erneut. Diesmal vernahm sie Stephens Stimme. »Leslie? Eben war bei dir besetzt. Ich bin
    es, Stephen.« »Ja, Stephen, hallo. Ich hatte gerade einen seltsamen Anruf.« Sie schüttelte den
    Gedanken daran ab. Jemand hatte sich verwählt oder sich einen Scherz erlaubt.
    »Ich
    komme eben erst aus dem Operationssaal. Ich hätte mich sonst eher gemeldet. Ist etwas
    passiert«
     »Fiona
    ist tot.«
    » Was?«
    „Sie wurde ermordet. Am Samstagabend.«
    „Das gibt es doch gar nicht«, rief Stephen entsetzt. „Gestern wurde sie gefunden. Es ist
    ... es ist so unfassbar, Stephen.«
    »Weiß man denn, wer das getan hat?«
    »Nein. Im Augenblick hat man wohl keine Ahnung.« »Wurde sie beraubt?«
    »Ihre Handtasche war noch da. Die Brieftasche auch. Nein, es ging wohl ... nicht um Geld.« Sie
    sprach mit monotoner Stimme.
    Stephen brauchte ein paar Sekunden, um sich zu fassen und seine Gedanken zu sortieren. »Pass
    auf«, sagte er dann, »ich werde sehen, dass ich hier eine Vertretung organisieren kann. Und
    dann komme ich so schnell wie möglich nach Scarborough. Zu dir.«
    Sie schüttelte heftig den Kopf, obwohl Stephen das gar nicht sehen konnte. »Nein. Deshalb habe
    ich nicht angerufen. Ich wollte nur ... « Sie hielt inne, holte tief Luft. Was hatte sie
    eigentlich gewollt?
    »Vielleicht brauchst du mal jemanden, der dich in den Arm nimmt«, sagte Stephen.
    Es klang weich. Mitfühlend. Verständnisvoll. Warmherzig. Im Grunde war er genau das, was sie
    jetzt gern gehabt hätte. Jemand, der sie in den Arm nahm. An dessen Schulter sie ihren Kopf
    legen konnte. Jemand, der sich ihren Schmerz anhörte. Mit dem sie über ihre Schuldgefühle
    sprechen konnte.
    Ein Fels in der Brandung. Das war er einmal für sie gewesen. Und sie hatte geglaubt, er werde
    es für immer sein. Bis ans Ende aller Zeit.
    Trotz ihres Kummers und ihrer Ohnmacht stieg die Wut über seinen Verrat wieder in ihr auf. Der
    Schock, der Schmerz jenes Moments traf in der Erinnerung erneut auf sie. Er wollte sie in den
    Arm nehmen? Ausgerechnet von ihm hatte sie diese Geste nie mehr gewollt.
    »Spar dir deine diesbezüglichen Fähigkeiten für deine Kneipenbekanntschaften auf«, sagte sie
    nur

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