Das andere Kind
und beendete das Gespräch, indem sie den Hörer auf die Gabel knallte. Es war vielleicht
nicht fair, nachdem sie ihn zuvor an den Apparat genötigt hatte, das Gespräch war schließlich
nicht seine Idee gewesen. Aber es war zumindest das, was sie empfand.
»Anonyme Anrufe?«, fragte Valerie Almond scharf. »Welcher Art waren die?«
Chad Beckett überlegte. »Es war wohl so, dass nichts gesprochen wurde. Das Telefon klingelte,
jemand atmete, antwortete nicht auf Fragen und legte schließlich auf.«
»Und seit wann war das so?«
»Das hat sie so genau nicht gesagt. In der
letzten Zeit, so drückte sie es, glaube ich, aus.« »Fiona Barnes
erzählte Ihnen also am Samstagabend davon?«
»Ja. Nachdem Dave Tanner gegangen war und meine Tochter sich weinend in ihr Zimmer
zurückgezogen hatte. Sie bat mich um ein Gespräch. Dabei erzählte sie von den
Anrufen.«
»Die Sache hat sie bedrückt, nehme ich an.« »Ein wenig beunruhigt, ja.«
»Und hatte sie eine Idee, um wen es sich bei dem Anrufer handeln könnte?«
Chad zuckte erneut mit den Schultern. »Nein.«
»Nicht die kleinste Vorstellung? Um irgendjemanden, der sie nicht ausstehen konnte? Jemanden,
mit dem sie irgendwann einmal richtigen Krach hatte? Zerwürfnisse, was weiß ich. Bei jedem gibt
es solche Vorkommnisse im Leben.«
»Aber selten fuhrt das zu anonymen Anrufen. Fiona konnte das jedenfalls nicht einordnen.« »Und
Sie?«Valerie sah den alten Mann aufmerksam an. »Können Sie die Anrufe einordnen?«
»Nein. Ich habe Fiona gesagt, was ich vermute. Irgendein Gestörter, der sich seine Opfer
willkürlich im Telefonbuch sucht. Ein harmloser Spinner, der diese zweifelhafte Form von Macht
genießt. Hinter solchen Anrufen stecken doch meist derartige Typen.«
»Sicher. Nur liegen ihre Zielpersonen dann nicht kurz darauf ermordet in einer Schlucht im
Wald. Wir müssen diesen Hinweis sehr ernst nehmen, Mr. Beckett. Wenn Ihnen jemand einfällt, der
als Anrufer in Frage kommen könnte, sollten Sie mir den Namen nennen.«
»Selbstverständlich«, sagte Beckett.
Er war grau im Gesicht, seine Haut glänzte leicht. Es sah aus, als bereite ihm der Kreislauf
Probleme. Valerie hatte im Gespräch mit ihm erfahren, wie lange er Fiona Barnes bereits kannte:
seit seinem fünfzehnten Lebensjahr. Im Zuge der Kinderevakuierung während des Krieges war sie
als kleines Mädchen auf die Beckett-Farm gekommen. Eine Lebensfreundschaft war daraus
entstanden. Die Art, wie seine alte Freundin hatte sterben müssen, konnte Beckett nur als einen
Albtraum empfinden, aber er war der Typ Mensch, der darüber kein Wort verlor. Er würde die
ganze Geschichte mit sich selbst abmachen, und wie immer seine schlaflosen Nächte aussehen,
welch grausame Bilder durch seine Tage geistern mochten, er würde sich niemandem
öffnen.
Valerie verließ das Arbeitszimmer, nachdem sie sich verabschiedet hatte. Im Eingang traf sie
Leslie und Jennifer, die ein leises Gespräch miteinander führten. Valerie beschloss, die Anrufe
sofort anzusprechen.
»Dr. Cramer, wie gut, dass ich Sie noch sehe. Hat Ihre Großmutter Ihnen gegenüber etwas von
anonymen Anrufen erwähnt, die sie wohl seit einiger Zeit bekommen hat?«
»Nein«, sagte Leslie, »davon hat sie nichts erwähnt, aber ... « Ihr fiel etwas ein. »Ich selbst
habe heute Morgen einen seltsamen Anruf bekommen. Jemand atmete einfach in den Hörer und legte
dann auf. Ich habe jedoch nicht weiter darüber nachgedacht.«
»Das deckt sich ziemlich genau mit der Beschreibung, die Fiona Barnes Mr. Beckett am Abend
ihres Todes von diesen Anrufen gegeben hat«, sagte Valerie. »Kein Wort, sondern nur Atmen. Der
Anruf erreichte Sie in der Wohnung Ihrer Großmutter?«
»Ja«, sagte Leslie.
Valerie überlegte. Sie hatte alle Bewohner der Farm im Wohnzimmer versammelt und mit ihnen über
den fatalen Samstagabend gesprochen, sie hatte danach auch noch einzeln mit jedem von ihnen
geredet. Sie hatte nach möglichen Feinden von Fiona Barnes gefragt. Niemandem war ein Einfall
gekommen. Tatsächlich schien der einzige echte Anwärter auf diese Bezeichnung Dave Tanner zu
sein. Nach Aussagen der Zeugen hatte Fiona ihn gnadenlos gedemütigt. Allerdings erklärten alle,
sich nicht vorstellen zu können, dass er deshalb zum Mörder wurde.
»Er ist einfach nicht der Typ«, hatte Jennifer Brankley gesagt, und Valerie hatte es sich
versagt zu erwähnen, dass die Bereitschaft zu kriminellen Handlungen Menschen in den
Weitere Kostenlose Bücher