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Das andere Kind

Titel: Das andere Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Das andere Kind
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tiefes
    Vertrauen in die polizeiliche Ermittlungsarbeit offenbarte.
    Dave, der nicht allzu viele Jahre zuvor Polizisten prinzipiell nur als
    Bullenschweine bezeichnet hatte, vermochte sich diesem Vertrauen keineswegs anzuschließen. Er
    sah die Dinge sehr klar: DI Valerie Almond wollte auf der Karriereleiter nach oben, natürlich,
    das wollten sie alle. Dazu brauchte sie eine Lösung der Hochmoormorde, wie eine Zeitung die beiden Verbrechen
    bereits unter großzügiger Umgehung der geografischen Fakten tituliert hatte. Voraussetzung
    dafür wiederum war die Überführung eines Täters. Je länger sie im Dunkeln tappte, umso
    beharrlicher würde sie sich an den einzigen kleinen Anhaltspunkt klammern, den sie hatte, und
    das war unglücklicherweise er selbst. Dank der Tatsache, dass die Barnes ihn vor einem ganzen
    Haufen Zeugen richtig heruntergeputzt hatte, stand er jetzt mitten im Fadenkreuz. Natürlich
    hatte er noch einen Joker im Ärmel, und den würde er im Notfall auch ziehen, aber das durfte
    tatsächlich erst geschehen, wenn ihm überhaupt keine andere Wahl mehr blieb.
    »Gwen, weißt du ... «, begann er, unterbrach sich aber beim Anblick ihres
    Gesichts, das Naivität und blinde Ergebenheit spiegelte. Er hatte ihr etwas erklären wollen
    über Menschen, die zu Unrecht verdächtigt und eingesperrt wurden, über ehrgeizige Polizisten
    und korrupte Richter, über die Macht der Presse, die Beamte unter
    Druck setzen und in falsche Richtungen vorantreiben konnte, über das
    Strippenziehen auf höchsten politischen Ebenen, dem gern ein unbedeutender Bürger geopfert
    wurde, wenn sich dafür nur die Seilschaften ehrgeiziger Karrieristen als tragfähig erwiesen. Er
    hatte nie daran geglaubt, dass es genügte, ein Unrecht nicht begangen zu haben, um auch nicht
    dafür bestraft zu werden. Er hatte nie an das Rechtssystem geglaubt, hatte es stets für zynisch
    und bestechlich gehalten, und letztlich hatte er sich dafür, für diese Überzeugung, zwanzig
    Jahre zuvor so unheilbar mit seinem Vater, diesem Erzdiener des Systems überworfen, dass er seither nicht den geringsten
    Kontakt mehr zu seiner Familie hatte.
    Er hätte Gwen erklären können, dass hier die Ursache lag für sein Leben, das mancher als
    gescheitert ansehen mochte, das er selbst - und das war das große Problem, der große depressive
    Faktor in seinem Dasein - oft genug als gescheitert ansah: seine Unfähigkeit, auf irgendeiner
    Ebene mit seinem Land, dem Staat, der gesamten politischen und gesellschaftlichen Struktur
    paktieren zu können. Seine Unfähigkeit, Teil der Gesellschaft Großbritanniens zu werden,
    während er diese Gesellschaft zugleich ablehnte und verachtete. Er hätte mit seiner Verlobten
    über das Dilemma sprechen können, das sich für ihn mit dem Fortschreiten der Jahre immer
    stärker herauskristallisiert hatte; ein Dilemma, das sich aus seiner Erkenntnis ergab, trotz
    allem Teil des Systems zu sein und sich mit ihm arrangieren zu müssen, letztlich auch nicht die
    Kraft zu haben, sich ihm dauerhaft und mit allen Konsequenzen zu verweigern, sich jedoch
    zugleich als Verräter an seinen Überzeugungen, an sich selbst, an seiner eigenen Persönlichkeit
    zu empfinden.
    Er hätte in der Frau, die er heiraten wollte, gern den Menschen gesehen,
    dem er sich öf fnen, dem er seine eigenen Wi dersprüchlichkeiten erklären konnte, aber er wusste, dass Gwen ihm nicht würde folgen
    können. Ihr Leben war die Farm. Ihr wundervoller Dad. Waren die Liebesromane, die kitschigen
    Fernsehfilme und das Warten und Hoffen auf das große Glück. Er glaubte nicht, dass sie dumm
    war. Aber ihr Leben hatte sich in ganz eigenen Dimensionen abgespielt und war, anders als das
    Leben der meisten Menschen in der heutigen Zeit, allzu sehr von Einsamkeit,
    Weltabgeschiedenheit, Schüchternheit und Unwissen geprägt gewesen. Er hatte ihr von seinen
    Protesten in der Jugendzeit gegen die Stationierung der Cruise Missiles erzählt, und sie hatte
    ihn angeglotzt, als habe er ihr von grünen Männchen aus dem All berichtet. Er war in einen
    langen und heftigen Monolog gefallen, in dem er seinen Unmut über die Jahre der
    Thatcher-Regierung zum Ausdruck gebracht hatte und darüber, wie sehr diese Zeit seinen
    weiteren, im Wesentlichen von Verweigerung geprägten Lebensweg bestimmt hatte. Sie hatte
    zugehört, aber geradezu verzweifelt dabei ausgesehen, und er wusste, dass der Grund nicht darin
    bestand, dass sie eine andere politische Auffassung vertreten hätte.

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