Das Antlitz der Ehre: Roman (German Edition)
Euch gar nicht gesehen.«
»Was wohl an dem Turm in Euren Armen liegt?«, vermutete sie.
»Ganz recht. Ich wollte diese Kisten keinem der Knechte überlassen, da ich sichergehen wollte, dass sie wohlbehalten in meiner Kammer eintreffen.« Er grinste schief.
»Und nun wäre das Unglück beinahe Euch selbst passiert«, fügte Elisabeth hinzu. »Warum tragt Ihr auch alle drei auf einmal? Ihr habt es geradezu herausgefordert!«
»Ja, das war ganz und gar unbedacht von mir«, gab er zerknirscht zu. »Würdet Ihr so freundlich sein, die dritte Kiste wieder obenauf zu legen, damit ich meinen Weg nun hoffentlich unbeschadet zu Ende bringen kann?«
»Nein, das werde ich nicht! Schaut nicht so erstaunt. Ich trage sie Euch in Eure Kammer, und dann müsst Ihr mir verraten, was für Kostbarkeiten in diesen Kisten schlummern.«
Meister Thomas lächelte. »Ich danke Euch, Fräulein Elisabeth. Ich hoffe, Ihr seht Euch nachher nicht für Eure Freundlichkeit getäuscht, denn ich fürchte, der Inhalt kann nur einem solch verschrobenen Kerl, wie ich es bin, einen Ausruf des Entzückens entringen.«
Elisabeth barg die Kiste behutsam in ihren Armen und schritt neben Meister Thomas zu dem mittleren Gebäude auf der Südseite der Festung, wo er und ihr Bruder neben den wertvollsten der mitgebrachten Waren untergebracht worden waren. Während Georg ein Gemach und zwei angrenzende Kammern im Obergeschoss bezogen hatte, bog Meister Thomas von dem schmalen Gang im unteren Geschoss in einen Raum mit gewölbter Decke und steinernem Boden ab, in dem es außer einer einfachen Feuerstelle, einem langen Tisch und einigen Hockern an der Wand keinerlei Möbelstücke gab. Hatte man sie entfernt? Elisabeth konnte sich nicht
erinnern, wann sie diesen Raum das letzte Mal betreten hatte. Es musste sehr lange her gewesen sein. Nun jedenfalls enthielt er – außer der kärglichen Möblierung – unzählige Kisten und Bündel und so etwas wie handliche, tragbare Holzregale mit Dosen aus Metall, Holz oder glasiertem Ton, kleinen Metall-oder Holzschachteln, aber auch mit Stroh ausgepolsterte Kästen, in denen bauchige Glasflaschen ruhten.
Behutsam stellte Elisabeth ihre Kiste auf den Tisch und sah sich dann neugierig in der weitläufigen Kammer um.
»Wollt Ihr mir verraten, wozu Ihr diese vielen verschiedenen Dosen und Kästchen braucht?«
»Gern, Fräulein Elisabeth, wenn Euch das interessiert. Aber sagt mir Bescheid, wenn ich Euch langweile. Die Leidenschaft geht gern mit mir durch, wenn ich von der Wunderwelt der Heilmittel spreche.«
»Ich werde es Euch wissen lassen, ehe ich gelangweilt in tiefen Schlaf sinke«, gab sie mit einem Lächeln zurück.
»Nun denn.« Auch Meister Thomas stellte seine Fracht ab, ehe er sich zu ihr gesellte und auf eines der kleinen Transportregale zeigte.
»Wie Ihr bereits selbst bemerkt habt, gibt es viele verschiedene Möglichkeiten, Heilmittel zu transportieren und aufzubewahren. Es gibt Holzkästen und Säckchen aus Stoff oder Leder, Papiertüten und kleine Schachteln, dann die Tongefäße und natürlich die aus Glas. Daneben findet Ihr Materialien wie Silber und Bronze, Zinn und Horn. Die Wertvollsten sind die aus feinem, weißem Milchglas, auch Porzellan genannt, das aus dem fernen Japan kommt und kaum bezahlbar ist, dafür aber bei jedem Fall zu Bruch gehen kann. Keiner weiß, wie sie es herstellen. Viele haben schon experimentiert, aber unsere Häfnerwaren und das Steingut sind noch weit von diesem wundervollen Milchglas entfernt. Manche sagen auch Beinglas dazu, wenn Menschenknochen in der Grundmasse mitverarbeitet wurden. Aber ich schweife ab. Wozu diese vielen
verschiedenen Behältnisse? Natürlich sollen sie in einer Apotheke auch schön aussehen – wir wollen ja schließlich die zahlungskräftige Kundschaft beeindrucken, und nichts schafft mehr Vertrauen als eine prächtige Offizin! Doch mehr noch fordern alle Ingredienzien eine sorgfältige Behandlung, und nicht jeder Stoff lässt sich in jedem Behältnis aufbewahren. Sie verfallen und verderben, verändern sich, werden wässrig oder fest, schimmeln oder ziehen Ungeziefer an. All das muss ich zu verhindern suchen, um jedes Heilmittel möglichst lange in seiner reinen und damit wirksamen Form zu erhalten.«
Elisabeth strich mit dem Finger an den Behältnissen entlang, die mit farbigen Wappen und seltsamen Zeichen verziert waren.
»Wollt Ihr ein paar Beispiele sehen?«
Sie nickte. Meister Thomas nahm ein Holzkästchen aus einem der Regale und
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