Das Areal: Thriller (German Edition)
es vor den Hunden weglief. Der Junge konnte nicht schwimmen und ertrank. Ohne sich abgesprochen zu haben, kamen eine Menge Leute, um zu trauern und etwas zu hinterlegen. Jemand hatte die Idee, Papierlaternen anzufertigen. Drei Nächte lang wurde der Kanal von tausenden Lichtern erhellt. Aus der Ferne sah es so aus, als zöge sich ein weißes Band durch das Areal. Ein leuchtender Pfad für den Toten. Es war wunderschön.«
Sie hob abermals den Arm, und diesmal war ganz offensichtlich, worauf sie zeigte. Ihre Finger zitterten. Dann ließ sie den Arm sinken und sagte: »U nd das ist der Tower. Die Feuer gehen niemals aus. Der Tower schläft nie. Er verschwindet nicht. Eines Tages bin ich nach Hause gekommen, und sie waren da. Ich war auf dem Markt in Aiken Field gewesen. Dad hatte mir und meinem Bruder je einen Zwanziger gegeben. Mein Bruder hat sein Geld für Tequila rausgeschmissen, aber ich hab mir diese coolen chinesischen Sneaker und ein auffälliges Make-up gekauft. Ich war vierzehn. Sie waren zu dritt, alle hatten rote Kapuzen auf, und da war noch ein vierter Typ, ganz in Rot. Er war mager und kahlköpfig und sagte, er wäre ›Der Mund‹. Dad saß leichenblass da, mit aufgerissenen Augen. Sie meinten, ich solle zum Tower mitkommen, Sorrow habe mich beobachtet, und ich solle mich verabschieden. Wir haben uns nicht gewehrt. Man wehrt sich nicht gegen den Tower, verstehst du? Dad hat mich so fest umarmt, als wolle er mich ersticken. Er hat kein Wort gesagt. Ich glaube, ich auch nicht. Ich habe ihn seit zwei Jahren nicht mehr gesehen.«
Turner sagte nichts, wartete darauf, dass sie weitersprach.
»D ieser Mann … der Mann, der hinter mir her war, du weißt schon. Es tut mir leid, dass ich weggerannt bin und mich vor ihm versteckt habe, aber der war vom Tower und wollte mich zurückholen.«
»D as hat er zu mir auch gesagt. Er wollte dich mitnehmen. Er hat gemeint, du würdest sterben, wenn er dich nicht fände.«
Sie begann zu schluchzen, klammerte sich an seinen Arm. Heiße Tränen liefen ihr übers Gesicht. Turner wusste, dass er keinen Trost für ihre tiefe Trauer hatte. »M ein Dad fehlt mir so sehr«, sagte sie.
29
S ie haben mich fertiggemacht, genau wie dich, Frau«, sagte Bayle. Er hockte wölfisch auf der anderen Seite des Tors, und seine Augen funkelten im orangefarbenen Halbdunkel. Kate konnte erkennen, dass er an ihr vorbeisah, gebannt von der Erinnerung und den Schrecken der jüngsten Vergangenheit. Sie hatte noch zweimal geschlafen, und in der Zeit hatte er ihr frisches Wasser gebracht. Zu essen hatte er ihr nichts gegeben. Trotzdem hatte sich das Hungergefühl verflüchtigt, und zurückgeblieben war eine nagende Leere, die ihr immer dann zu schaffen machte, wenn sie ans Essen dachte. Ihr Zeitgefühl war aus dem Tritt geraten, und sie hatte keine Ahnung, wie lange sie schon unter der Erde gefangen war. Ihre Muskeln waren steif und schmerzten, als hätte sie hart trainiert, und sie fragte sich, ob das ein Anzeichen dafür war, dass das Virus sein langsames, tödliches Werk begann. Allerdings konnte sie noch klar denken und sich auf ihre Gefangenschaft und das Ticken der Uhr konzentrieren, die ihre Lebenszeit maß.
Es gab keinen Ausweg.
»I ch bin zu ihnen gegangen wie ein Schaf, ich nahm ihr Geld, und sie haben mich vergiftet. Sie haben mir Versprechungen gemacht, haben gesagt, mir könnte nichts passieren, und was ich täte, werde anderen Menschen nützen. Sie haben mich belogen, und ich habe ihnen geglaubt. Sie haben mir ihren Dreck gespritzt, und ich habe ihn unwissentlich mit mir herumgetragen. Als er sich verbreitete, hätte ich den Mund aufmachen sollen. Ich hätte es wissen müssen. Die anderen haben geglaubt, es käme aus der Dunkelheit. Sie wollten es bis zu seinem Ursprung zurückverfolgen und sie dafür büßen lassen. Ich habe ihnen nichts gesagt. Ich brachte es nicht fertig. Ich hatte Angst.«
Kate hatte Bayle jetzt mehrfach kommen und gehen hören, hatte gelauscht, als das Geräusch seiner Schritte in der Ferne verhallt war, und gewartet, während er, so schien es ihr zumindest, stundenlang wegblieb. Sie versuchte die Richtung zu bestimmen, die er einschlug, stellte sich vor, dass er an die Oberfläche zurückging. In seiner Abwesenheit hatte sie Zeit gehabt, ihre Zelle zu untersuchen. Die Wände waren aus massivem Beton, da gab es kein Durchkommen. Zwei Rohre mündeten in den Raum, kaum breit genug, um die Hand hineinzuschieben. Vermutlich alte Strom- oder Wasserleitungen.
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