Das Attentat
die Augen waren die von Saskia, so wie er sie das erste Mal in der Westminster Abbey gesehen hatte. Ein unauffälliges, freundliches Mädchen von ungefähr dreiundzwanzig Jahren. Das Lächeln zog ihren Mund zur rechten Gesichtshälfte, was ihr etwas Weltgewandtes verlieh und mit dem steifen, hochgeschlossenen Kleid, den angedeuteten Puffärmeln und dem aufgestickten Muster seltsam kontrastierte. Sie hatte dichtes, gewelltes, schulterlanges Haar, vermutlich dunkelblond, doch das war auf dem Schwarzweißfoto nicht zu erkennen. Am Rand war das Bild überbelichtet, in dem dunklen Hintergrund zuckten ein paar widerspenstige Lichtspritzer auf und blitzten um ihren Kopf.
Takes hatte sich neben ihn gestellt.
»Ist sie das?«
»Sie muß es sein, sie muß es sein…«, sagte Anton, ohne die Augen von dem Foto abzuwenden.
Endlich war sie aus der Dunkelheit hervorgetreten – mit Saskias Blick. Er erinnerte sich an das, was ihm am Abend zuvor durch den Kopf gegangen war, aber er war zu aufgeregt, um schon begreifen zu können, welche Bedeutung diese Ähnlichkeit für ihn hatte. Takes gab ihm dazu auch keine Chance. Als hätte er sich bisher mit aller Kraft beherrscht, packte er Anton plötzlich bei der Schulter und schüttelte ihn wie ein Lehrer das dösende Kind.
»Na los, erzähl schon! Was hat sie gesagt?«
»Ich weiß es nicht mehr.«
»Hat sie über mich gesprochen?«
»Ich weiß es nicht mehr, Takes.«
»Versuch, dich zu erinnern, verdammt!« Er brüllte und bekam sofort einen Hustenanfall, der ihn in eine Ecke trieb, wo er, nach vorn gebeugt und fast kotzend, mit den Händen auf den Knien stehenblieb. Als er sich keuchend aufrichtete, sagte Anton:
»Es ist weg, Takes. Ich wünschte, ich könnte es dir sagen, aber alles, woran ich mich erinnern kann, ist, daß sie mein Gesicht berührt hat. Ich hatte nachher eine Blutspur im Gesicht, daher weiß ich, daß sie verletzt war. Ich war zwölf, begreif das doch. Ich weiß nicht einmal mehr, wie sich die Stimme meines eigenen Vaters angehört hat. Unser Haus war in Brand gesteckt worden, meine Eltern und mein Bruder verschwunden, ich hatte einen Schock, ich hatte Hunger, ich saß in einer dunklen Zelle unter einer Polizeiwache…«
»Einer Polizeiwache?« fragte Takes und starrte ihn mit offenem Mund an. »Welcher Polizeiwache?«
»In Heemstede.«
Takes fuchtelte verzweifelt mit den Armen.
»Da saß sie also… Herrgott, da hätten wir sie rausholen können. Ich dachte, in Haarlem im Gefängnis…«
Anton sah, daß im selben Augenblick in Takes Kopf nachträglich der Plan entstand, die Polizeiwache in Heemstede zu überfallen. Er wandte den Blick ab und lief gequält hin und her. Alle Einzelheiten waren für immer fort, verschwunden, aus der Welt. Er wußte, daß in der Universität momentan Versuche mit LSD unternommen wurden. Selbstverständlich war alles noch irgendwo in seinem Gehirn gespeichert, er wußte, daß seriöse Versuchspersonen gesucht wurden, und vielleicht würde es dann zum Vorschein kommen. Wenn er Takes davon erzählte, wäre der verrückt genug, von ihm zu fordern, sich einem solchen Experiment zu unterziehen, aber er hatte keine Lust, die Vergangenheit chemisch auszugraben. Außerdem lief er Gefahr, daß nicht das zum Vorschein kam, sondern etwas anderes, Unerwartetes, das vielleicht nicht zu kontrollieren war.
»Ich weiß nur noch«, sagte er, »daß sie eine lange Geschichte erzählt hat über irgend etwas.«
»Worüber?«
»Das weiß ich nicht mehr.«
»Herrgott!« rief Takes, leerte sein Glas und ließ es dann wie ein Kneipenwirt in einem Western über den Tisch rutschen.
»Ich habe es vergessen, ich habe es vergessen…«
Anton blieb stehen.
»Am liebsten«, sagte er, »würdest du mich auf einen Stuhl binden, mir eine Lampe ins Gesicht halten und es so aus mir herauszubekommen versuchen, hab ich recht?«
Takes schaute kurz zu Boden.
»O. k.«, sagte er dann mit einer Geste, »o. k.«
Anton brauchte nicht mehr auf das Foto zu schauen, um zu wissen, wie Truus Coster aussah: ihr Gesicht hatte sich seinem Gedächtnis bereits unauslöschlich eingeprägt.
»Wart ihr verheiratet?« fragte er.
Takes schenkte sich nach und kam mit der Flasche zu Anton.
»Ich war verheiratet, ja, aber nicht mit ihr. Ich hatte eine Frau und zwei Kinder – in deinem Alter, etwas jünger vielleicht. Aber ich liebte sie, nur liebte sie mich nicht. Für sie hätte ich meine Familie sofort im Stich gelassen, aber darüber lachte sie. Wenn ich sagte, daß
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