Das Attentat
Soll ich womöglich aufgeklärt werden, oder was? Das ist wirklich nicht nötig. Ich habe meinen Teil gehabt, und niemand weiß das besser als du.«
Takes schaute ihn an und ließ ihn auch nicht aus den Augen, als er einen Schluck trank.
»Ich will, daß du weißt, mit wem du es zu tun hast.«
Er schaute ihn noch eine ganze Weile unverwandt an und nahm dann die Flasche.
»Komm. Laß die Tür offen, wegen des Telefons.«
Er ging hinter Takes die Treppe hinunter ins Souterrain. Takes schloß eine Tür auf, die in einen, niedrigen Raum führte, dessen Zweck Anton auf den ersten Blick nicht erkannte. Es war stickig. Durch die hochgelegenen Fenster kam nur schwaches Licht herein. Takes schaltete mehrere Neonleuchten ein, von denen eine mit violetten Entladungen an den Enden nur ohnmächtig flackerte. Angeschlagene weiße Kacheln deuteten darauf hin, daß der Raum früher einmal die Küche des Herrschaftshauses gewesen war; unter der niedrigen Decke hingen dicke Heizungsrohre und alle möglichen anderen Leitungen. In der Mitte stand ein Holztisch mit einem vollen Aschenbecher und an der langen Wand ein verschlissenes rotes Plüschsofa; außer einem altmodischen Wäscheschrank mit einem Spiegel in der Tür und einem ausrangierten Fahrrad gab es keine weiteren Einrichtungsgegenstände. Das Ganze hatte etwas von einem Bunker oder einem unterirdischen Hauptquartier – vor allem wegen der vergilbten, an einigen Stellen eingerissenen Karte, die dem Sofa gegenüber mit Klebestreifen an einer Tür befestigt war. Anton ging mit dem Glas in der Hand hin und her. ›Kompas van Duitsland‹ stand in der unteren rechten Ecke. Die Karte war mit roten und blauen Flutwellen überzogen, Offensiven, die aus Rußland und Frankreich in Richtung Berlin rollten, wo sie sich trafen. Ohne Farbe waren nur einige Teile von Nord- und Mitteldeutschland und den West-Niederlanden. Seine Augen blieben an einer Stelle der Karte, auf der Nordsee, haften. Auf dem verblaßten Blau war der vage, hellrote Abdruck eines Mundes: ein Kuß, den jemand mit geschminkten Lippen auf das Papier gedrückt hatte. Er drehte sich um. Mit übereinandergeschlagenen Beinen saß Takes auf dem Sofa und beobachtete ihn.
»So ist das«, sagte er.
Hing die Karte darum hier? Nicht aus giftigem Heimweh nach dem Krieg, sondern weil der Abdruck ihrer Lippen darauf war? War das Souterrain eine Gedenkstätte? Aber vielleicht gab es für Takes zwischen dem Krieg und ihr keinen Unterschied. Vielleicht war der Krieg seine Geliebte geworden, der er deswegen nicht untreu werden wollte. Wenn er von den Greueln des Krieges erzählte, sprach er vielleicht über Truus Coster und die Zeit, in der er glücklich war.
Anton ging zum Sofa und zog dabei unwillkürlich den Kopf ein, obwohl er gerade noch aufrecht stehen konnte. Er setzte sich neben Takes und schaute wieder auf den Mund, der sich aus der Nordsee erhob. Es sah aus, als sei das übrige Gesicht unter Wasser. (Schon als Junge von elf oder zwölf Jahren hatte er sich eingebildet, in Haarlem die Leute herumlaufen sehen zu können, wenn er die Karte der Niederlande unter ein Mikroskop legte – und täte er das im Garten, würde er sich, über ein Mikroskop gebeugt, selber sehen…) The fair Ophelia. Dort hatten ihre Lippen das Papier berührt. Vielleicht, während sie die Karte nach Berichten von Radio London auf den neuesten Stand brachten und sich darüber unterhielten, was sie nach der Befreiung machen würden… Neben sich hörte er Takes' Bronchien rasseln. Mit einer Zigarette zwischen den Lippen schenkte er sich wieder ein und schwieg weiter. Nie zuvor hatte sich Anton mit einem anderen Mann so verbunden gefühlt, und vielleicht empfand es Takes ebenso. Von draußen drang der leise Klang eines Glockenspiels herein. Anton warf einen Blick auf das Fahrrad. Ein Herrenfahrrad mit Querstange und einem Sattel, der früher ›Terrysattel‹ geheißen hatte und den man jetzt nirgends mehr sah.
Dann sah er das Foto.
Es hatte die Größe einer Ansichtskarte und war mit der Unterseite nicht weit von der Landkarte hinter ein Elektrokabel gesteckt. Sein Herz begann zu hämmern. Reglos starrte er auf das Gesicht, das ihn nach einundzwanzig Jahren aus der Ferne anschaute. Nach einigen Sekunden warf er einen kurzen Blick auf Takes – der glotzte dem Rauch nach, den er ausblies –, stand auf und ging auf das Foto zu.
Saskia. Es war Saskia, die ihn anschaute. Natürlich war es nicht Saskia, sie ähnelte ihr nicht einmal, aber der Blick und
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