Das Auge der Dunkelheit (German Edition)
zusammenführten. Alle in seiner Gegenwart befanden sich in tödlicher Gefahr. Ihr durfte nichts geschehen. Bald schon würde er sich wieder von ihr trennen, das wenige, bislang Gewonnene wieder aufgeben müssen. Obwohl ihm daran lag, es zu vertiefen. Und er fürchtete, keine Gelegenheit zu bekommen, ihr dieses Missverständnis zu erklären. Oder sollte er es wagen?
Alle schwiegen. Draußen zog die flache, gelbgrüne, in diesiges Licht getauchte Landschaft vorbei. Kaih lenkte den vierzig Jahre alten Landrover über eine schauderhafte Piste. Hinter der Ortschaft Pyay brachte sie das Kunststück fertig, nur noch aus Schlaglöchern zu bestehen. Ruud saß auf Beifahrersitz, Nini schlief auf der mittleren Bank, Leonard und Ellen teilten sich die Rückbank. Versonnen sah sie aus dem Fenster, spürte ihn plötzlich ohne Berührung und wandte sich ihm zu. Zerbrechlich lächelnd suchte sie in seinen Augen. Und fand dort ein Leuchten, zu gleichen Teilen vertrauenerweckend und beängstigend . Die beiden Gestalten, die sich in diesem Mann vereinigten, oder eher, in einem stummen Kampf miteinander rangen.
„Ich möchte, dass du dir das hier mal ansiehst“, sagte er.
Da er das Blatt nicht aus der Hand gab, rutschte sie zu ihm hinüber.
„Ein Kris“, stellte sie nüchtern fest. „Auch für dein persönliches Schreckenskabinett?“
Er ignorierte ihre süffisante Frage.
„Stammt er von hier?“
„Ausgeschlossen.“
Sie gab zu, nur wenig darüber zu wissen. Aber genug, um Leonard auf zwei Widersprüchlichkeiten hinzuweisen.
„Diese rituellen Waffen entstammen dem indo-malaiischen Kulturkreis. In Burma sind sie völlig unbekannt.“
Dann wies sie auf das Liniengewirr im oberen Drittel der Klinge.
„Und das hier sieht wie eine misslungene Schmiedearbeit aus. Das kann es eigentlich nicht geben. Perfektion bei der Verarbeitung ist oberstes Gesetz.“
„Wenn sie hier unbekannt sind, was ist dann das?“, fragte er und zeigte ihr das Symbol des dreizackigen Sterns und das Schriftzeichen in seiner Mitte.
„Chu-Po.“
Ihre Verblüffung flatterte mehrmals von dem Blatt zu seinem Gesicht und zurück. Ihr Mund öffnete sich, aber nur ein kurzer Laut kam hervor. Zu viele Fragen auf einmal wollten über ihre Lippen, deshalb schaffte es keine. Woher? Wie? Wer?
Woher weißt du das?
Wie ist das möglich?
Wer bist du?
Die Forscherin in ihr gewann das Rennen.
„Ja, du hast recht. Chu-Po. Oder Pyu, wie sie jetzt im Allgemeinen genannt werden. Aber das kann nicht authentisch sein. Es ist, als fände man eine ägyptische Hieroglyphe auf einem Normannenschwert.“
„Warum sollte jemand, um bei deinem Beispiel zu bleiben, die detaillierte Zeichnung eines Normannenschwertes anfertigen und eine Hieroglyphe hinzufügen, wenn sie sich nicht auf der Klinge befunden hätte?“
Die Unsicherheit, die sich nun auf ihrem Gesicht zeigte, entstand aus einer anderen Ursache als ihre Gefühle für ihn.
„Suchst du wirklich das Grab eines Urgroßvaters?“
Da sie –eines Urgroßvaters- sagte, entsprach seine Antwort sogar der Wahrheit.
„Ja, Ellen. Das tue ich.“ Es klang überzeugend. „Er hatte dieses Ding bei sich. Die Zeichnung stammt von ihm. Nach allem, was ich weiß, war er kein Witzbold, der andere hereinlegen wollte, indem er wild irgendwelche Symbole miteinander vermischte.“
Zum ersten Mal sprach er ihren Namen aus und es schwang zärtlich. Sie errötete über ihre unpassend erscheinende Aufwallung und unterdrückte sie, indem sie auf seine Antwort einging.
„Wenn das stimmt, dann ist dieser Kris auf irgendeine Weise mit der Geschichte der Pyu verbunden.“
„Das hier hat er auch hinterlassen.“
Leonard überreichte ihr eine der Fotografien. Jene der Steintafel mit der Schriftgravur.
„Was ist das?“
„Du bist die Expertin.“
„Das sieht wie eine alte Stele aus, mit Pyu-Schrift. Ist sie echt?“
„Das Bild wurde vor rund hundert Jahren aufgenommen. Keine Ahnung, ob es zu der Zeit schon Antiquitäten-Fälscher gab.“
Dann deutete er auf das Zeichen, das beide Abbildungen gemeinsam trugen.
„Könnte natürlich ein Zufall sein. Aber das bezweifele ich.“
In Gedanken verglich Leonard Conleys Notizen mit seinen eigenen, spärlichen Erkenntnissen. Demnach barg nicht der Dolch selbst oder seine Herkunft das größere Geheimnis als vielmehr das, wohin er führte.
„Der Dolch soll eine Art Wegweiser sein. Es war einmal von der Pagode des Schwarzen Buddha die Rede. Und die Stele birgt vielleicht einen
Weitere Kostenlose Bücher