Das Auge der Dunkelheit (German Edition)
„Das verbotene Grab“, murmelte er.
„Nein, nein“, korrigierte ihn Lin. „Nach der korrekten Grammatik müsste es dann in umgekehrter Reihenfolge dort stehen. Verbotenes Grab hieße makam dilarang .“
„Natürlich“, bestätigte er. „Die fehlenden Palmstücke. Sie ergänzen den Sinn. Verboten bezieht sich also auf ein Wort, das davor steht, auf einem der anderen Stücke und das Grab wird durch ein Wort näher bezeichnet, das dahinter stehen müsste.“
Raste es gerade noch, so setzte sein Herz jetzt für einen Moment aus. Der Schauder wischte ihm die Farbe aus dem Gesicht, Schweiß perlte von der Stirn. Vergeblich versuchte er, den heranfahrenden Schwindel aufzuhalten.
Ich habe alles aufbewahrt. Makam saya. Niemand hat es erfahren.
Die Truggestalt aus der chinesischen Apotheke in der Kitchener Road. Jemandem, den er sich einbildete, verdankte er den ersten Hinweis. Sein Gehirn weigerte sich, diese Unlogik anzuerkennen. Und trotzdem klammerte es sich an den Schluss, der nach dieser Unlogik der einzig logische war. Sie hatte den Dolch versteckt.
Plötzlich durchfuhr es ihn und er schreckte auf.
„Oh, entschuldige“, sagte Lin. „War das zu heftig?“
Erst, als das Brennen auf seiner rechten Gesichtshälfte zunahm, kapierte er. Lin hatte ihm eine kräftige Ohrfeige verpasst.
„Du warst völlig weg“, rechtfertigte sie sich.
„Okay“, murmelte er und rieb sich die rötende Wange. „Alles okay.“
Irgendwas verbotenes in einem Grab.
„Was bedeutet saya ?“
„ Ich oder mein “, sagte sie. „Wie in mein Haus. Warum fragst du?“
„Nur so eine Idee. Wahrscheinlich bedeutungslos.“
Inzwischen wusste er es besser. Lin sah auf das vollgekritzelte Blatt mit Zahlen und Worten.
„Viel können wir damit jetzt nicht anfangen“, seufzte sie.
„Die anderen aber noch weniger“, erwiderte er.
Sein wieder aufgeklarter Verstand erfasste die Situation.
„Das hier ist die Trumpfkarte. Und das verschafft uns einen entscheidenden Vorteil.“
„Was meinst du?“
„Wir haben die Nummer 1. Das Stück, das den Schlüssel trägt, wie die Hexagramme zu übersetzen sind. Ohne das hier ...“
Und er hielt das Palmblatt in die Höhe.
„... sind die anderen beiden wertlos. Ich frage mich, ob das nicht eine gute Verhandlungsbasis ist.“
„Sie werden dich töten. Das ist dir klar.“
Auf eine perverse Art erhitzte sie diese Vorstellung. Der Ausdruck ihrer Augen wandelte sich.
„Ich will mit dir schlafen.“
„Gut, die Kerle sind saugefährlich und einen Plan hab ich auch noch ...“
Er stutzte.
„Was hast du gesagt?“
Mit einem Knie drückte sie gegen seinen Schenkel, öffnete den obersten Knopf ihrer seidenen Bluse und beugte sich zu ihm herunter.
„Ich sagte, ich mag Männer, wenn sie attraktiv sind und klug und obendrein auch noch mutig.“
„Nein, nein, du hast gesagt ...“
Ihre Zunge versperrte seinen Worten den Weg. Eine knappe Stunde später schlief er ein, schweißgebadet, ausgelaugt, mit Kratzern auf dem Rücken und Bisswunden an Hals und Brust. Es würden noch blaue Flecken hinzukommen, war sein letzter Gedanke. Weil sie sich über die Küchenmöbel und den Fußboden langsam, ineinander verschlungen, vorgearbeitet hatten, bis sie im Schlafzimmer landeten. Erst in der Frühe wachte Leonard wieder auf, verklebt, mit einem wohligen Gefühl. Durch das offene Fenster drang Vogelgezwitscher. Plötzlich spürte er einen kühlen Druck auf seiner Wange. Er wollte den Kopf wenden, doch das Kühle zwang ihn ins Kissen. Im Augenwinkel bildete sich ein Viereck ab mit einem Loch in der Mitte. Die Öffnung eines Pistolenlaufes.
„Und jetzt dreh dich ganz langsam um, Freundchen!“ schnarrte eine dunkle Stimme.
„Würden Sie das bitte noch mal wiederholen“, insistierte Detective Inspector Sung.
Abwehrend hob der Pathologe des Changi Hospitals die Hände.
„Ich habe absolut keine Erklärung dafür, aber es ist, wie ich Ihnen gesagt habe.“
Dann nahm er das Laken von der Leiche.
„Sie ist erfroren!“
„ Alamah !“, entfuhr es Sung, als er die junge Frau erkannte. Ihre Augen waren unnatürlich weit geöffnet. Vom linken Ohr bis zum Hals zog sich eine Spur getrockneten Blutes, gemischt mit gräulichem Schleim. Den verzerrten Gesichtszügen nach musste sie dem Teufel persönlich ins Gesicht gesehen haben. Und dabei war allem Anschein nach ein Teil ihres Gehirns geplatzt. Die Haut wies die normale Totenblässe auf und zeigte sogar noch Reste des ursprünglichen, braunen
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