Das Auge der Dunkelheit (German Edition)
neuer Energie geladen richtete Chan sich auf, sein Kichern klang wie eine betrunkene Elster. Der Diener teilte die Erregung seines Herrn.
„Es ist soweit, mein Herr. Endlich.“
Die Augen beider Männer glänzten wie die von Kindern unter dem Weihnachtsbaum. Dieses Geschenk schickte der Himmel. Selbst Chan Khuo zögerte für einen Moment, die dünnen Schnüre, die es umwickelten, zu berühren. Er versank in ein kurzes Gebet. Dann griffen seine dürren Finger das Bündel, entfernten zitternd vor Erregung die Riemen und falteten das Fell auseinander. Als es offenbarte, was es enthielt, spürte er einen Schlag, als zermalme ein Hammer seine morschen Knochen.
„Das ist er nicht! Verdammt! Das ist er nicht!“
Detective Inspector Sung befand sich bereits auf dem Weg in den Hausflur, als er die aufgeregte Stimme seines Assistenten hörte. Mit einem Lappen wischte Chao das Blut aus dem Gesicht der Leiche und zeigte auf den Hals.
„Kommen Sie, Chief, kommen Sie.“
Als Sung an das Bett trat, erkannte er es auch.
„Aber das ist ...“
Unterhalb des Ohres bis zum Halsansatz streckte sich eine Tätowierung. Die Darstellung einer Schlange, die in obszönen Windungen den nackten Körper einer Frau umschlang. Die Köpfe der Figuren neigten einander zu, mit einem Ausdruck der Wollust. Sie kannten diese vulgäre Tätowierung. Weil ihr Träger bei ihnen aktenkundig war.
„Reidy!“
„Unser alter Bekannter Daniel Reidy“, bestätigte Chao.
„Die Leute sagten doch, sie hätten den Engländer hier gesehen.“
„Eindeutig, Chief“, antwortete Chao. „Gut, sie haben beide etwa die gleiche Statur. Aber mindestens drei der Nachbarn sprachen von auffallend grünen Augen. Reidy hat, sorry, hatte braune.“
Leonard Finney war also hier gewesen. Und Sung wusste, mit welchen Geschäften Reidy sein Geld verdient hatte. Und das änderte einiges.
Alles floh aus Chan Khuos Körper. Die Schmerzen, überhaupt jedes Gefühl, sogar sein Verstand. Einzig die Kraft blieb für Sekunden. Sie reichte aus. Mit voller Wucht krachte der Gehstock auf Tan Pais Rücken. Der Sekretär ging in die Knie und drückte den Kopf auf den Fußboden, unterwarf sich, versuchte, seinen Herrn zu beschwichtigen. Vor Wut heulend schleuderte Chan den Stock von sich und kippte auf seine Liege. Jetzt, da die Kraft aufgebraucht war, wartete er japsend, bis alles andere wieder in seinen zerfressenen Körper zurückkehrte.
Eilig sprang Tan Pai auf. Den rasselnden Ton, den die zerfledderten Lungen seines Herrn erzeugten, kannte er. Geübt durch unzählige Male zog er eine Morphiumspritze auf. Die größere Schwierigkeit bestand darin, in den zerstochenen Beugen oder anderswo an den dürren, fleckigen Armen einen Punkt für den Einstich zu finden. An den meisten der knorpelig vernarbten Stellen, so fürchtete er, würde die hauchdünne Nadel abbrechen. Er entschied sich für eine weniger geschundene Ader am Handrücken und drückte vorsichtig das Gift in die Vene. Chan Khuos Atem normalisierte sich, ein tiefes Raunen aus der Kehle zeigte Tan Pai, dass das Morphium in das Gehirn eindrang. Chan öffnete die wässerigen Augen.
„Ich werde diesen Hund erwischen“, ächzte er mit brüchiger Stimme. „Ich werde ihm seine eigenen Klöten zu fressen geben. Und dann ziehe ich ihm persönlich die Haut in Streifen herunter.“
Tan Pai legte die gläserne Spritze beiseite. Dann raffte er zusammen, was auf dem Tisch lag. Die Riemen, das Fell und das, was es enthalten hatte. Ein Stoß alter Zeitschriften.
Als australischer Staatsbürger hatte Daniel Reidy den Status eines Expatriats besessen, die Genehmigung für dauerhaften Aufenthalt. Sie war ihm erteilt worden, als er noch dem anständigen Teil der Singapurer Gesellschaft angehört hatte, als Broker an der Börse. Doch er zählte zu den Pechvögeln, verzockte sich und verlor alles. Sein Abstieg begann. Ein tiefer Fall bis in die Gosse, begleitet von Gallonen von Alkohol. Sein Appartement musste er eintauschen gegen ein Loch in Chinatown, seine Anzüge gegen schäbige Straßenkleidung, seinen Schmuck gegen eine obszöne Tätowierung. Aber sein zweites Talent bescherte ihm ein ausreichendes Einkommen. Wenn er mal die Finger von der Flasche nahm. Daniel Reidy galt als begnadeter Fälscher, handelte mit Ausweispapieren und Visa.
Inspector Sung studierte die Akte. Nur einmal wurde Reidy verhaftet, minderschwerer Fall, konnte sich freikaufen. Irgendein korrupter Mistkerl kassierte die Summe und setzte ihn auf freien
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