Das Auge des Basilisken
sagen?«
»Lieber Gott, was ich dir gerade gesagt habe, daß sie eine allbekannte und allgemein verrufene Person ist, daß einer ihrer jungen Liebhaber Selbstmord beging und sie im Verdacht steht, einen anderen ermordet oder zumindest zufällig getötet zu haben, wenn sie auch nie unter Anklage gestellt wurde. Daß sie …«
»Alles unerwiesene Behauptungen. Gerüchte.«
»Was erwartest du? Unsere Freunde und ihre Freunde sind nicht unter Eid, aber warum sollten sie lügen, und noch dazu die gleiche Lüge verbreiten? Diese Frau ist pervers. Sie … Nun, Agatha Tabidze wollte nicht auf Einzelheiten eingehen; dabei sind wir seit zehn Jahren befreundet. Das läßt auf einiges schließen.«
»Allerdings, wie alles, was du über sie sagst – daß die Dame für jeden jungen, unternehmungslustigen Mann unwiderstehlich sein muß. Natürlich begrüße ich es nicht, aber …«
»Aber was?«
Sergej Petrowskys stattliches bärtiges Gesicht zeigte ein verfeinertes Unbehagen, ein Bewußtsein unerledigter Pflichten verbunden mit einem sanften, bedauernden Zynismus über den wahren Wert dieser Pflichten. Seine äußere Erscheinung war ähnlich zwiespältig: zu einem nüchtern geschnittenen Anzug aus dunkelgrauem Flanell trug er eine buntgestreifte Weste mit Kupferknöpfen und ein beigefarbenes Hemd mit offenem Kragen. Neben ihm, rundschultrig und nicht groß, in feingewebter azurblauer Baumwolle mit lila Bändern, zeigte Tatjana sich dem flüchtigen Blick als eine viel weniger eindrucksvolle Gestalt. Bei näherem Hinsehen hätte man Entschlossenheit in ihrem Blick und um den Mund bemerkt, und Willenskraft oder zumindest Eigensinn in dem kräftig ausgebildeten Überaugenbogen, eine Eigenheit, die sie ihren Söhnen vererbt hatte, aber nicht ihrer Tochter, und jemand, der soviel bemerkt hätte, wäre sehr wahrscheinlich vom Mitgefühl für einen Mann ergriffen worden, dessen Frau so genau und sicher wußte, wie er sich bei jedem Anlaß zu benehmen hatte, und die jederzeit bereit war, ihm dieses Wissen zum Geschenk zu machen. Nur eine enge und aufmerksame Freundin der Familie, vielleicht Agatha Tabidze oder eine andere, war in der Lage zu beobachten, wie wenig eindrucksvoll und lahm Sergej auf Tatjanas Schelten und Drängen reagierte und wie gelassen er weiterhin tat, was ihm gefiel, was in der Praxis gewöhnlich bedeutete, alles zu vermeiden, was Feindseligkeit erzeugen würde.
»Aber was kann ich tun?« antwortete er ihr jetzt. »Was sollte ich tun? Und was macht dich so sicher, daß eine Affäre im Gange ist? Ich habe nichts davon bemerkt.«
»Mein Lieber, du würdest nichts merken, wenn du sie zusammen im Bett sähest, aber wenn du es hören willst, will ich dir sagen, was mich so sicher macht. Zumindest zweierlei. Die Art und Weise ihres Benehmens, als sie und Alexander neulich von ihrem Spaziergang im Park zurückkamen. Nicht ein Wort den ganzen Abend, und dann auf einmal an allem interessiert. Wie eine Drogensüchtige in einem Film des vorigen Jahrhunderts, vor und nach Einnahme einer Dosis. Er machte es ziemlich geschickt. Aber seitdem ist er so geheimnistuerisch geworden, das ist die andere Sache. Gewiß, er hatte auch früher schon seine albernen Anwandlungen, aber bevor diese Affäre anfing, wußte ich auf diese oder jene Weise immer ziemlich genau, was er vorhatte. Er spürt, daß ich sein Verhalten stärker als gewöhnlich mißbillige. Sein Benehmen hat sich völlig geändert.«
»Junge Männer können alle möglichen Gründe zur Geheimniskrämerei haben.« Petrowsky sprach sehr freundlich, oder zumindest besänftigend. »Und warum mißbilligst du sein Verhalten? Moralische Haltung scheint heutzutage ziemlich … sinnlos.«
»Im Gegenteil, heutzutage hat sie mehr Sinn als je zuvor. Aber es ist nicht nötig, die Moral zu bemühen – sicherlich siehst du andere, praktische Gründe zur Mißbilligung. Angenommen, ihr Mann kommt ihr auf die Schliche; hast du darüber nachgedacht, welchen Schaden das anrichten und wie sehr es das Verhältnis zwischen ihm und dir beeinträchtigen könnte? Dazu kommt die Frage, wie sie sich verhalten würde? Zumindest solltest du ihn warnen.«
»Ich bin überzeugt, daß er alles das in Betracht gezogen hat, mein Liebes.«
»Wirklich? Wann zuletzt wurde gesehen, daß er irgend etwas in Betracht zog, was ihn daran hindern könnte, zu tun, was er wollte?«
Noch immer sanft, antwortete Petrowsky: »Nun sind wir doch bei der Moral gelandet, nicht wahr? Moralische Mißbilligung eines
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