Das Babylon-Virus
durch den Kopf gegangen sein musste.
»Da unten ist noch was«, wisperte der Junge. Gebannt folgte er den raschen Bewegungen der Bleistiftmine. » Wir … «, flüsterte er, » … haben … keine … Zeit … mehr .«
Eine Gänsehaut war auf Rebeccas Unterarme getreten, doch sie hielt nicht inne. Noch eine Zeile, ganz am Ende der Seite.
»Ein großes A «, hauchte Fabio. »Und ein großes B . Und dahinter? Ist das eine Acht?«
»Das ist eine Flugnummer«, sagte Rebecca. »Ein Flug nach Berlin. Der nächste internationale Flughafen - wenn man nach Weimar will.«
Nahe Caputh, Deutschland
Alles war grau. Der Himmel war grau und die weite Wasserfläche aufgewühlt von einem unsteten Wind, der von Norden und Osten heranfegte. Selbst die Luft besaß eine irgendwie gräuliche Färbung, die die bunten Punkte der Sommerhäuser am jenseitigen Seeufer hinter einem Schleier von Dunst undeutlich und verschwommen machte.
Amadeo hatte den Kragen seines Mantels bis zur Nasenspitze hochgeschlagen. Er war sich nicht sicher, ob es hier am Ufer des Schwielowsees wirklich kälter war als am Vorabend auf seinem Spaziergang durch Rom. Auf jeden Fall war es bedeutend ungemütlicher.
In einem Fachgeschäft nicht weit von der Autobahn hatte er die Punkte auf seiner gedanklichen Einkaufsliste einen nach dem anderen abhaken können. Er war wohlgerüstet,
hatte alles in eine frisch erworbene Sporttasche gepackt. Bereit für das Abenteuer, so bereit man nur sein konnte mit dem Bild im Kopf, wie der Professor mit dem Tode rang - Wir haben keine Zeit mehr! Ja, so bereit man nur sein konnte an einem unfreundlichen Tag wie diesem und in einem Ort, der an eine Geisterstadt erinnerte. Auf den Straßen war kaum ein Mensch zu sehen, offenbar nicht allein wegen der Furcht vor der Grippe in diesem Fall. An jedem zweiten Haus entdeckte Amadeo Schrifttafeln: Fremdenzimmer frei . Angesichts der aktuell herrschenden Witterung würde sich das so schnell auch nicht ändern.
Amadeo schulterte seine Ausrüstung, vergrub die Hände in den Manteltaschen und warf einen letzten Blick auf die sturmgepeitschten Wellen. Entschlossen machte er sich auf den Weg zu einer weit in den See vorragenden Halbinsel. Alle paar Schritte hatte er seine Navigation im Blick, die er mit Einsteins Zielkoordinaten gefüttert hatte.
Es war nicht etwa das Gerät aus dem Mietwagen - das war in dem Gefährt fest eingebaut. Amadeo hatte den mobilen Apparat aus seinem Fiat dabei, der ihm schon gute Dienste geleistet hatte. Er hatte von Anfang an gewusst, dass er noch einmal dankbar sein würde für das Kartenmaterial, das ganz Europa abdeckte. Wichtiger als die Karten war in diesem Moment allerdings die GPS-Anzeige, deren Präzision durchaus an das GoogleEarth-Programm heranreichte, mit dem er sich in der officina die Situation an einer Nebenbucht des Schwielowsees angeschaut hatte. Am Ende der Halbinsel führte ein Damm quer über den See und schnitt das letzte Stück der Wasserfläche, den Petzinsee, ab. Dort, auf Höhe einer kleinen Insel und nur wenige Meter vom Damm entfernt, befand sich sein Zielpunkt. Ob Einstein diese Stelle ganz bewusst gewählt hatte? Damit man notfalls vom Ufer aus Zugriff hatte? Noch konnte Amadeo
die Frage nicht beantworten - nicht bevor er wusste, was in den eisigen Wassern verborgen war.
Einem schmalen, gewundenen Pflasterweg folgte er ins Innere der Halbinsel, und schon nach wenigen Schritten nahmen ihm Bäume und hohe Zäune den Blick auf den See. Irgendwo, nicht allzu weit weg, kläffte ein Hund. Ein unfreundliches Kläffen, fand Amadeo, von einem unfreundlichen Hund. Einem großen unfreundlichen Hund.
Rechter Hand befand sich nun ein Campingplatz, ausgestorben wie der gesamte Ort. Als Nächstes musste ein Bootsclub kommen, und dann … Abrupt blieb Amadeo stehen. Der Weg endete vor einem verschlossenen Tor. Am Zaun entlang führte nur eine Art Trampelpfad weiter. Doch der Damm musste sich direkt geradeaus befinden, unmittelbar hinter dem eingezäunten Grundstück. Unschlüssig trat Amadeo näher. Eine Klingel war nirgends zu sehen, doch am Tor gab es einen Drücker …
Das Gebell wurde plötzlich lauter. Ein Knurren.
Amadeo fuhr herum.
»Halt!« Das Wort, aus tiefster Kehle hervorgestoßen, klang selbst beinahe wie ein Kläffen. »Das ist Privatbesitz! Was haben Sie hier zu suchen?«
Der Mann war nicht viel älter als Amadeo, soweit sich das sagen ließ - er trug eine Atemmaske. Dafür hatte er einen Hut auf, bei dessen Anblick der
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