Das Babylon-Virus
Er konnte es selbst kaum glauben, aber er genoss diese Fahrt.
Der Motor, so betagt er auch sein mochte, war in tadelloser Form, und die Lenkung gehorchte tatsächlich so einwandfrei , wie Fernwaldt ihm versichert hatte. In Böen trieb der Wind schaumgekrönte Wellen vor sich her, die gegen die Planken brachen. Amadeo spürte jede Erschütterung, jedes Rucken des hölzernen Bootsrumpfs.
Er hatte sich seit Monaten nicht so lebendig gefühlt, beinahe zurückversetzt in die Sommer als ganz junger Mann, an die Touren mit seinen ersten Freundinnen durch geschützte Buchten am Rande der Adria.
Von diesen romantischen Plätzchen hätte der Schwielowsee allerdings nicht weiter entfernt sein können. Amadeo warf einen Blick nach rechts, wo über der Wasserfläche neuer Regen aufzog. Von der Anlegestelle hatte er das Boot auf jenen Arm des verzweigten Gewässersystems hinausgelenkt, den er vorhin mit der Fähre überquert hatte. Fernwaldt hatte ihn vor dieser Stelle gewarnt: Die Strömung der Havel, kaum spürbar auf der weiten Fläche des Sees, nahm kurz vor der Engstelle rapide zu. Amadeo sollte sich möglichst weit rechts halten, hinaus auf das offene Wasser, dann könne nichts passieren.
Nur war das leichter gesagt als getan. Schon jetzt war die Strömung heftig und drückte tückisch gegen den Kiel, während über dem Wasser der Sturm heranfauchte.
Mit klammen Fingern öffnete Amadeo seine Sporttasche und zerrte eine Regenjacke hervor. Hastig schlüpfte er in die
Ärmel, während er mit dem Knie für eine Sekunde das Ruder fixierte. Die Jacke zu schließen war jetzt keine Zeit. Eiskalter Nieselregen peitschte heran, scharfkantig wie Hagel. Immer stärker wurde das Boot von der Strömung erfasst. Amadeo fluchte, legte sich mit seiner ganzen Kraft ins Ruder. Einen Moment lang tat sich überhaupt nichts. Eine neue Böe fegte über das Boot hinweg, drehte den Bug noch eine Winzigkeit weiter nach links, auf die Engstelle zu. Dann, plötzlich, Windstille.
Amadeo hielt den Atem an. Die Sturmkönigin, eben noch Spielball der Wellen, nahm wieder Fahrt auf. Von einem Augenblick zum anderen spürte er, wie der untergründige Sog nachließ. Er hatte die Strömung des Flusses hinter sich, war für den Moment außer Gefahr, solange er dem Ufer nicht zu nahe kam: Dort, links vor ihm, das musste der Campingplatz sein, mit Stegen und Böschungen, an denen die schmutzig weiße Gischt meterhoch emporschoss, und fest vertäuten kleinen Booten ähnlich seinem eigenen, abgedeckt für den Winter.
Eilig schloss Amadeo den Reißverschluss, blickte zurück zur Anlegestelle. Seine Augen tränten vom eisigen Wind.
Am jenseitigen Ufer, noch immer am Rande des Stegs, entdeckte er Fernwaldt. Der alte Mann hatte die Hände wie einen Trichter vor den Mund gelegt, schien etwas zu rufen, doch über das Tosen des Sturms hinweg war kein Wort zu verstehen. Amadeo schüttelte den Kopf, war sich aber nicht sicher, ob Fernwaldt das erkennen konnte, und das Steuerruder loszulassen, wagte er nicht. Doch der Alte begriff offenbar. Er nahm die Hände vom Mund und gestikulierte nach rechts, auf den See hinaus.
Der Restaurator nickte. Im Augenblick konnte er seine Navigation nicht auspacken, doch er hatte sich die Gegebenheiten eingeprägt. Gleich hinter der Campinganlage
warnte eine Boje vor Untiefen, zwang ihn zu einem neuen Schlenker hinaus auf die Wasserfläche. Mit zusammengebissenen Zähnen legte er das Ruder um und verfolgte, wie sich der Bug der Sturmkönigin gegen den Wind drehte. Sofort wurde die Dünung wieder heftiger. Wellen rollten heran, hoben den Kiel aus dem Wasser und ließen ihn Augenblicke später wieder nach unten sacken. Schlammgraues Wasser schlug über die Bordwand. Amadeos Magen vollführte Purzelbäume, doch verbissen klammerte der junge Mann sich am Ruder fest, steuerte weiter geradewegs auf den See hinaus und beobachtete angespannt, wie das Positionszeichen näherkam.
Neue Brecher wogten ihm entgegen, packten das Boot und warfen es meterweit zurück. Schon mit dem folgenden Wellental konnte Amadeo die verlorene Strecke wiedergutmachen und mehr dazu, doch er riss entsetzt die Augen auf, als er sah, wie nahe ihn das unfreiwillige Manöver an die Boje getragen hatte. Im letzten Augenblick vermochte er den Kurs zu korrigieren, schrammte so nahe an dem wild auf den Wellen tanzenden Positionszeichen vorbei, dass er es mit der Hand hätte berühren können.
Erleichtert stieß er den Atem aus, als er direkt dahinter scharf zurück in
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