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Das Beben

Titel: Das Beben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Mosebach
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eine zweite Tasse. »Madam«, sagte Virah, mir schien sein Lächeln verschämt.
    Im Saal nebenan waren die Koffer auf den drei Kofferböcken geöffnet wie bei Manons Ankunft. Als ich eintrat, klappte sie gerade einen der Koffer zu und gab Maggah, der in der Tür stand, ein Zeichen: Der hier sei fertig, und Maggah ergriff ihn und trug ihn hinaus.
    »Ich wollte dich nicht stören«, sagte sie, als sie mich entdeckte. Ich sei hoffentlich nicht durch irgendwelchen Lärm aufgewacht? Sie sah übernächtigt aus, als habe sie in ihren Kleidern geschlafen oder als habe sie ihre Kleider wieder angezogen, ohne Toilette zu machen. Ich liebte sie gerade in dieser Verfassung, die für ein derart verwöhntes und gepflegtes Wesen ungewöhnlich war. Herr Haag kannte sie gut, wenn er ihr niemals eine Friseurfrisur verpaßte, er kannte sie so gut, wie ich sie kannte. Manon kam auf mich zu und küßte mich, einen vollen, weichen, unfrischen Morgenkuß gab sie mir, der alle Sehnsucht nach ihr weckte. Sie schien ein wenig traurig, war aber kein bißchen verlegen oder unsicher. Was geschehen war, besaß zu viel Bedeutung und Gewalt. Es formte ihr Leben um. Sie war am Ziel. Da gab es kein kleinliches Bedauern oder Um-Verständnis-Bitten. Wie sollte ich etwas verstehen, was sie selbst nicht verstand?
    »Es ist sofort passiert, bei der ersten Begegnung«, sagte sie ruhig, als spreche sie über eine Fremde. Vielleicht war es das Zauberlicht, der Abendschein über dem Felsental, der auch bei mir immer das Gefühl einer großen Erwartung weckte. Schon als sie von weitem den großen Mann mit dem dichten grauen Haar und der aus rotem Stoff geschlungenen Hose sah, habe sie gespürt, endlich angekommen zu sein.
    »Ich werde dich deshalb immer lieben, denn ohne dich wäre ich nie hierher gekommen. Deine Aufgabe in meinem Leben war, mich glücklich zu machen – so hast du das einmal gesagt. Und du hast Wort gehalten.«
    Still ging sie im Raum auf und ab, barfuß nebenbei, ich durfte ihre schmalen, langen Füße mit dem hohen Spann, der von Schuhen stets ein wenig malträtiert wurde, ein letztes Mal bewundern. Das Wichtigste hatte ich, der ich in meinem zerknitterten Schlafanzug mit zerrauftem Haar vor ihr stand, sofort verstanden. Sie war dabei, mich zu verlassen. Sie packte ihre Koffer. Aber weshalb sie das tat, das wollte mir zunächst nicht in den Kopf. Ich hatte, von bösen Ahnungen besessen, die sich als die lautere Wahrheit herausstellten, in die falsche Richtung geguckt. Ich hatte mich ganz darauf eingestellt, daß mein Gegner Sanjay sei, ein Mann mit dem Charme des Nichtsnutzes, voll schwarzem Roßhaar in den hohlen Wangen, ein unzufriedener junger Mann, wie sie zu Millionen und Abermillionen auf der Erde herumlaufen, ein Jüngling, der seinen Brahmanenstand schon allein durch seine Unzufriedenheit verriet, aber nicht genug, um nicht noch das Brahmanen-Recht in sich zu spüren, anderen Leuten seinen Willen aufzudrängen. Wenn Manon sich an einen solchen Burschen gehängt hätte, suchte sie etwas, was ich nicht besaß und vielleicht nie besessen hatte: jugendlichen Egoismus, jugendlichen Ernst, jugendlichen Moralismus. Es wäre zum Verzweifeln gewesen, aber auch zum Lachen. Und mir wurde jetzt allmählich klar, daß ich nichts, aber auch gar nichts zum Lachen haben würde, so wie sich meine Affären gegenwärtig entwickelten.
    Sie habe verstanden, daß Yatindra ihr Schicksal sei, sagte Manon in einer Ruhe, als formuliere sie jetzt schon ihre Memoiren. Zum erstenmal hörte ich den Namen des Königs, den, wie man weiß, nicht einmal seine nächsten Verwandten in meiner Gegenwart nannten. Sie besaß nun das Recht dazu, ihn bei diesem Namen zu nennen. Allein das war für mich mit einem tiefen Erschrecken verbunden.
    Wann sich denn diese große, schicksalhafte Verbindung herausgestellt habe, fragte ich mit matter Stimme. Ich war ein Narr, taub und blind, oder ich sollte dazu gemacht werden.
    Augenblicklich, gleichzeitig, antwortete Manon. Die Antwort ließ sie träumen. Ich konnte mir das Hirn zermartern, nichts hatte ich gemerkt, alles Wichtige war an mir vorbeigegangen. Hatte die Nichtachtung des Königs für Manon nicht den Rand der Unhöflichkeit überschritten? Hatte ich mir nicht sogar überlegt, wie ich Manon, ohne daß sie es merkte, dem König aus den Augen schaffen könnte, um die Peinlichkeit dieser Begegnungen nicht noch zu steigern? Welch ein Tropf war ich. Manon schien das aber nicht wahrzunehmen. Sie war so freundlich, »nett« wäre

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