Das Beil von Wandsbek
Glück noch einmal versuchen sollte, an der schönen Glastür »Nur für Herrschaften« nämlich, saß Stine in ihrem Laden, stickte Sterne in hellblaue und hellgrüne Kinderkleidchen und schaute sehnsüchtig auf die sommerliche Straße hinaus, auf welcher die Kinder nicht mehr vor ihrem Laden spielten. Als die fast vergessene Ladenglocke schellte, eine fremde Frau eintrat und sich vor dem Ladentisch aufpflanzte, schrak Stine fast auf, eine Käuferin! Wenn man aber nichts mehr zu verkaufen hatte? Kein Frischfleisch, kein Gehacktes, keine Karbonaden? Aber siehe da, die Frau wünschte eine kleine Dauerwurst, und Dauerwürste hingen noch drei im Vorrat, zwei kleine und eine lange, gut zum Aufschneiden – und zum Selberessen. »Eine kleine Schlackwurst?« fragte sie, »gut für Ausflüge?« – »Als Mitgebringsel«, lächelte die Frau, »zwei kleine Hamburger Jungen, die sie sich von ihrer Mutter gewünscht haben.«
Die beiden Frauen sahen einander an und gefielen sich. Oft stellte sich solche Gefühlsbeziehung in wenig Augenblicken ein, so daß die Verkäuferin die Kundin mit Bedauern scheiden sieht, weil es sich ja nicht schickt, persönliche Wärme spielen zu lassen, so daß der Kunde manchmal für immer aus dem Gesichtskreis dessen scheidet, der sich gern näher mit ihm eingelassen hätte; oft auch wirkt die Anziehung gegenseitig und ändert Schicksale. Hier schien dies der Fall zu sein. Jedenfalls blickte die schlanke, magere Frau mit dem graugesträhnten Haarkranz unter dem kleinen dunklen Strohhut voll Sympathie auf Stine, wie sie die Wurst wog und verpackte – und zwar aus Augen, so groß und grau, wie Stine sie noch nie gesehen, kaum im Film, wo sie doch künstlich waren. Die aber hier in dem mageren, stubenblassen Gesicht wirkten wie zwei Signallampen oder die Scheinwerfer eines Autos – erschreckend, wenn sie nicht gleichzeitig ein zurückhaltend freundliches Interesse ausgedrückt hätten. Daß Männer die Stine so ansahen, hätte sie nicht verwundert, aber diese Frau hier ... Siehtmich so an, als wäre sie von einer langen Reise zurückgekommen und wunderte sich, mich so zu finden, dachte Stine, legte das kleine Paket auf den Ladentisch, nannte den Preis, er war nicht billig, und sah zu, wie die Frau, sie hatte offenbar eine gelähmte linke Hand, den gestrickten Handschuh darüber, in ihrem Geldtäschchen kramte und zahlte. Ihr dunkelbraunes Mantelkleid mit einer kleinen Pelerine war ausgesprochen unmodern, besonders die Reihe heller Knöpfe, vom Kragen hinunter bis zum Saum gab ihr etwas Fremdes, Besucherhaftes, wie von einer entlegenen Insel Kommendes, auf welcher Moden nachhinken.
An der Wand stand ein Tischchen mit zwei Stühlen, weißer Lack, aus Zeiten, wo Leute frische Rundstücke und für zehn Pfennig Knoblauchwurst im Stehen frühstückten. Einen dieser Hocker zog die Frau jetzt näher und bat, sich einen Augenblick ausruhen zu dürfen, sie sei nämlich heute schon viel in Hamburg unterwegs gewesen. »Abschied nehmen«, sagte sie mit dringlichen Augen und schmalen Lippen. »Wir werden auch nicht mehr lange hier sein«, entgegnete Stine ganz ohne es zu wollen, den Blick durch den kahlen Laden schweifen lassend empor zu der verwohnten grauen Decke. Sie habe davon gehört, erklärte die Besucherin, eigentlich wollte sie Herrn Teetjen sprechen, ihm etwas ausrichten. Stine entgegnete, ihr Mann sei leider nicht da, jetzt viel unterwegs, ob sie’s ihm nicht bestellen solle. Vielleicht, entgegnete die Frau, wiederkommen könne sie ja nicht, sie gehe von hier aus direkt an Bord, nach Norwegen. Stines Augen nahmen einen schwärmerischen und sehnsüchtigen Ausdruck an. »Ach, die Fjorde«, sagte sie, »Kraft durch Freude.« – »Teils, teils«, erwiderte die Frau. Sie komme nämlich nicht mehr zurück ins Reich, ihr Name sei Agnes Timme. Timme, wiederholte sie, aus dem Reeperbahnprozeß. Sie sei die Frau von dem Friedel Timme, an dem Herr Teetjen den Strafvollzug besorgt habe.
Stine sank auf die kleine Bank hinter dem Ladentisch, auf der auch das bestickte hellblaue Kleidchen lag, sie mußte sich an ihr festhalten. Der Mund blieb ihr offen stehen. »Sie sind –?« versuchte sie zu wiederholen, die entsetzten Augen auf den blassen Augen der anderen. »Die Frau von dem Mann«, bestätigte Frau Timme. Es habe fast ein Jahr gedauert, erklärte sie, bis sie allesverwunden, alle Papiere beisammen hatte, ihre Kinder zu besuchen, die in Leningrad erzogen wurden, der SU., der Sowjetunion, wiederholte sie, als
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