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Das Beil von Wandsbek

Das Beil von Wandsbek

Titel: Das Beil von Wandsbek Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnold Zweig
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und dann würde man ja klüger werden und alles durchschauen, so wie Fliegerphotographien aussahen, die zertrümmerte Städte und Straßen festhielten in Kanton, Barcelona und Madrid.Herr Lehrer Reitlin – wie viele Lehrer der alten Generation hatte er seinen Beruf gewählt, um sich an der Kinderhorde seiner eigenen Jugend zu rächen – war mit mageren Wangen, einer spitzen Nase, einem lustig geschwungenen Bärtchen am Kinn und einer steil borstigen Haartolle der glücklichste Mensch im ganzen Viertel. »Daß ich das noch erleben darf«, sagte er immer und immer wieder, »daß wir Deutschen unseren eigenen Christus haben« – im Geiste schrieb er das Wort Christus immer mit K –, »daß wir noch mal wieder mit dem gepanzerten Schuh auftreten dürfen ...!« Die Selbstversenkung der deutschen Flotte in Scapa Flow, so erklärte er im vertrauten Kreise, am Ende des ersten Weltkrieges, habe ihn vor dem Freitod gerettet, ihm dasjenige Quantum Selbstachtung wiedergegeben, mit welchem man weiterleben konnte. Jetzt hatten die Deutschen endlich die Religion, die zu ihnen paßte: das ganze Volk saß in einer Schulklasse und blickte zu seinem Lehrer auf, dem gottgesandten Adolf Hitler. Es sagte im Sprechchor seine Sprüche her, lernte seine Gedanken auswendig, billigte ehrerbietig seine Handlungen. Alle unbotmäßigen Elemente waren gezwungen worden, das Klassenzimmer zu verlassen – so oder so. Für niemanden war der Satz: ein Reich, ein Volk, ein Führer, von so unwiderstehlichem Wahrheitsgehalt wie für Christian Reitlin, der alle Taten des Führers billigte, alle seine Ausdrücke vergötterte und (in der Phantasie) vor nichts zurückgeschreckt wäre, um Seinen Willen auf Erden zu vollstrecken.
    Bei Blockwart Reitlin fand Albert das bereitwilligste Verständnis und das größte Entgegenkommen. Der Parteigenosse Teetjen war ein echter Mann nach Reitlins Herzen, und für niemanden galt es als so ausgemacht, daß ihm die Kommunisten nach dem Leben trachteten und daß sie überhaupt eine große dämonische Organisation in unterirdischen Bezirken des deutschen Lebens darstellten, wie für ihn. Daß dies mit seinem Glauben an die Allmacht Adolf Hitlers im Hitlerreich schwer zu vereinigen war, störte den zarten und gläubigen Blockwart nicht. Was früher die Katholiken und Juden bedeutet hatten und in romanischen Ländern die Freimaurer und Jesuiten, das stellten jetzt die Roten auf die Beine. »Ja, ja, Parteigenosse Teetjen« stöhnte er.»Da roch die Rotte das gräßliche Gold, schmeidig wie Schmerlen, das Purpurgeschmeiß, singt unser Dichter, und wir wissen ja, wen er meint.« Daß Parteigenosse Teetjen in Diensten der Wehrmacht nach Spanien gehe, daß man davon offiziell nichts hermachen dürfe, daß er infolgedessen die Verschwörung der Feinde zu einer Kraftquelle für ihren Untergang mache, das alles verstand niemand so gut, schätzte keiner so hoch ein wie Christian Reitling. Einem solchen Manne entgegenzukommen, gehörte sich. Er würde seinen Vertrag nicht erneuern? Sehr bedauerlich, aber zur Kenntnis genommen. Die Wohnung war sehr verwohnt, da Teetjens sie seit dreiunddreißig Jahren innehatten. Es blieb die Schande der früheren Besitzer und Verwalter, sich um das Behagen und gesunde Wohnen der Voksgenossen nicht besser gekümmert zu haben. Mit Laden und Küche würde man die Instandsetzung beginnen, mit Wohn- und Schlafzimmer enden. Und ohne Zweifel konnte Parteigenosse Teetjen den Raum noch bewohnen, indes die Handwerker in den vorderen schon tätig waren. Mietszahlung? Offiziell würde er eben am 1. 9. räumen, faktisch aber bis zum 15. seine Sachen darin lassen dürfen, um sie allmählich an Ort und Stelle zu transportieren. Das Viertel verlor einen Recken an ihm, eine Figur, von der später die Kinder sagen würden, sie hätten vor seinem Laden spielen dürfen, und er hätte ihnen die Hand auf den Kopf gelegt und sein Auge in dem ihren ruhen lassen. »Ja die Kinder«, bestätigte Albert, bekümmert, indem er seine Vertragspapiere wieder einsteckte, »daß die unsere Ecke verlassen haben und jetzt da hinten herumhopsen, wo die Luft doch zwischen den Häusern steht«, und er nickte schwermütig vor sich hin, worauf Herr Reitlin ihn eifrig mit dem lateinischen Spruch unterstützte und tröstete: daß Kinder Kinder seien und kindisch handelten. Er zitierte den Satz besonders angeregt, denn für ihn begann jetzt eine wichtige Zeit – Veränderungen auf der ganzen Linie, Dispositionen, die einem Napoleon Ehre

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