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Das Bernstein-Teleskop

Das Bernstein-Teleskop

Titel: Das Bernstein-Teleskop Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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einfach zu viele, als dass zwei kleine Insekten etwas gegen sie ausrichten könnten.
    Will hatte eigentlich nichts anderes erwartet. Leichter würde es jedenfalls nicht werden. Also versuchte er sich zu entspannen und innerlich ganz leer zu werden. Er saß einfach nur da, hielt das Messer locker in der Hand und wartete, bis er sich bereit fühlte.
    Beim nächsten Versuch schnitt das Messer in die Luft - und traf auf Felsen. Er hatte in dieser Welt eine Öffnung in den Untergrund einer anderen geschnitten. Will verschloss sie wieder und versuchte es aufs Neue.
    Und wieder geschah das Gleiche, obgleich er wusste, dass er eine andere Welt erreicht hatte. Er hatte bei früheren Gelegenheiten Fenster geöffnet, die sich über dem Erdboden einer anderen Welt befanden; also war es doch eigentlich nicht erstaunlich, dass er sich bei den nun geöffneten Fenstern im Untergrund wiederfand.
    Beim nächsten Mal fühlte er besonders sorgfältig mit der Messerspitze und achtete auf ein Geräusch, das ihm eine Welt anzeigte, wo der Boden auf gleicher Höhe lag. Doch so sehr er auch suchte, das Geräusch klang immer falsch. Überall stieß Will nur auf harten Fels.
    Lyra hatte mitbekommen, dass irgendetwas falsch lief. Sie unterbrach ihr Gespräch mit Rogers Geist und eilte zu Will.
    »Stimmt etwas nicht?«, fragte sie leise.
    Er erklärte ihr, mit welchen Schwierigkeiten er zu kämpfen hatte, und sagte dann: »Wir müssen zu einer anderen Stelle und dort versuchen, ein Fenster in eine andere Welt zu öffnen. Aber die Harpyien wollen uns sicherlich nicht ziehen lassen. Hast du den Geistern gesagt, was wir vorhaben?«
    »Nein. Nur Roger, und dem habe ich eingeschärft, nichts weiterzuerzählen. Er tut, was ich sage. Ach, Will, ich habe ja solche Angst. Wenn wir hier nicht mehr hinauskönnen? Wenn wir hier für immer stecken bleiben?«
    »Das Messer schneidet auch durch Fels. Wenn es nicht anders geht, schneiden wir eben einen Tunnel. Das würde zwar lange dauern und ich hoffe nicht, dass es dazu kommen wird, aber diese Möglichkeit bliebe uns immer noch. Mach dir also keine Sorgen.«
    »Ja, stimmt schon. Das könnten wir.«
    Doch Will erschien ihr mit seinem schmerzverzerrten Gesicht so krank und schwach, mit den dunklen Ringen unter den Augen, der zitternden Hand und den Fingern, die wieder zu bluten begonnen hatten. Ohne ihre Dæmonen würden sie nicht mehr lange durchhalten. Lyra sehnte sich nach ihrem Dæmon und schlang in Gedanken an Pan die Arme eng um sich.
    Unterdessen drängten die Geister wieder näher, vor allem die Kinder ließen Lyra keine Ruhe.
    »Bitte«, sagte ein Mädchen, »du vergisst uns doch nicht, wenn du wieder zurückkehrst?«
    »Nein«, beteuerte Lyra, »nie und nimmer.«
    »Erzählst du ihnen von uns?«
    »Versprochen. Wie heißt du denn?«
    Doch das arme Ding wurde ganz verlegen, hatte es doch seinen Namen vergessen. Mit gesenktem Blick wendete es sich beschämt ab. Ein Junge sagte:
    »Besser, man vergisst. Ich habe meinen Namen auch vergessen. Manche sind noch nicht lange hier und erinnern sich noch, wer sie sind. Andere Kinder sind hingegen schon seit Tausenden von Jahren hier. Sie sind nicht älter als wir und haben doch alles vergessen. Bis auf den Sonnenschein, den vergisst keiner. Und den Wind.«
    »Ja«, sagte ein anderes Kind, »erzähl uns doch davon!«
    Und immer mehr Geister drängten Lyra, von all den Dingen zu erzählen, an die sie sich noch erinnerten, wie die Sonne, den Wind und den Himmel, aber auch an anderes, das sie vergessen hatten, so zum Beispiel wie man spielt. Lyra fragte Will im Flüsterton: »Was soll ich tun?«
    »Erzähl es ihnen ruhig.«
    »Ich habe Angst, nach allem, was dort drüben passiert ist - die Harpyien -«
    »Sag ihnen einfach die Wahrheit. Wir halten die Harpyien solange in Schach.«
    Lyra schaute ihn ungläubig an. Im Innern fühlte sie sich ganz krank vor Angst. Dann wandte sie sich wieder den Geistern zu, die immer näher kamen.
    »Bitte«, flüsterten die Geister. »Du kommst doch gerade aus der Welt der Lebenden. Erzähle uns davon, bitte!«
    In der Nähe stand ein Baum, ein abgestorbener Stamm, dessen knochenbleiche Äste in den kühlen grauen Himmel ragten.
    Weil sich Lyra schwach fühlte und glaubte, nicht gleichzeitig gehen und erzählen zu können, trat sie zu dem Baum, um sich hinsetzen zu können. Die Schar der Geister bildete für die beiden Kinder eine Gasse.
    Als sie den Baum fast erreicht hatten, landete Tialys auf Wills Hand und bedeutete ihm, den Kopf

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