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Das Bernstein-Teleskop

Das Bernstein-Teleskop

Titel: Das Bernstein-Teleskop Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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Damals gab uns der Allmächtige die Macht, in jedem nur das Schlechte zu sehen, und seither haben wir uns nur vom Schlechten genährt, bis unser Blut nach Häme und Bosheit stank und unsere Herzen krank davon wurden. Doch das war nun einmal unsere einzige Nahrung, wir hatten nichts anderes. Und nun erfahren wir, dass ihr einen Ausgang in die obere Welt öffnen und alle Geister befreien wollt -«
    Ihre raue Stimme ging im allgemeinen Geflüster unter, denn jeder Geist, der mitgehört hatte, gab seiner Freude und Hoffnung Ausdruck. Darauf schrien alle Harpyien und schlugen mit den Flügeln, bis die Geister wieder verstummten.
    »Ja«, schrie Niemand, »um sie hinaus in die Welt zu führen. Was können wir noch tun? Ich sage euch, was uns zu tun bleibt. Von nun an halten wir uns nicht mehr zurück. Jeden Geist, der in unsere Fänge gerät, quälen, piesacken und zermürben wir, bis er vor Angst, Reue und Selbsthass schier wahnsinnig wird. Bisher war dieses Land eine Ödnis, nun machen wir eine Hölle daraus!«
    Alle Harpyien stimmten ihr johlend und schreiend zu und viele flogen von ihren luftigen Plätzen auf und stürzten sich auf die Geister hinab, so dass diese verängstigt davonstoben. Lyra hielt sich an Will fest und sagte:
    »Jetzt haben die Harpyien unser Vorhaben verraten, und wir können es nicht mehr in die Tat umsetzen. Die Geister werden uns hassen, sie werden glauben, dass wir sie betrogen haben. Wir haben alles nur schlimmer gemacht!«
    »Ruhig Blut«, sagte Tialys. »Verzweifle nicht. Ruf sie zurück und bringe sie dazu, dir wieder zuzuhören.«
    Will rief laut: »Kommt zurück! Kommt alle wieder her und hört zu!«
    Mit begierigen Mienen flogen die Harpyien eine nach der anderen wieder heran und setzten sich auf den Baum, wo sie hungrig auf neues Elend warteten. Auch die Geister kehrten wieder zurück. Der Chevalier stieg ab und ließ seine Libelle in der Obhut der Lady zurück. Dann sprang der drahtige, in Grün gekleidete Spion auf einen Felsen, wo ihn alle sehen konnten.
    »Harpyien«, rief er, »wir haben euch etwas Besseres zu bieten. Beantwortet ehrlich meine Fragen, hört mir zu und urteilt dann. Als Lyra draußen vor der Mauer zu euch sprach, stürztet ihr euch auf sie. Warum?«
    »Lügen!«, schrien die Harpyien wie aus einem Mund. »Lügen und erfundene Geschichten!«
    »Doch als sie vorhin etwas anderes erzählte, da habt auch ihr zugehört, jede von euch, und keine hat auch nur einen Mucks getan. Warum?«
    »Weil ihre Geschichte der Wahrheit entsprach«, antwortete Niemand. »Weil sie etwas Wahres erzählte. Weil wirklich etwas dahinter steckte. Weil wir gar nicht anders konnten. Weil wir gar keinen Begriff davon hatten, dass es noch etwas anderes als Bosheit und Schlechtigkeit geben könnte. Weil sie uns etwas Neues über die Welt und die Sonne und den Wind und den Regen berichtet hat. Weil es die Wahrheit war.«
    »Dann lasst uns einen Vertrag schließen«, sagte Tialys. »Statt in den Geistern, die hier herabkommen, nur die Bosheit, Schlechtigkeit, Grausamkeit und Gier zu sehen, habt ihr fortan das Recht, jeden Geist nach der Geschichte seines Lebens zu fragen. Und sie müssen euch wahrheitsgemäß antworten. was sie in der Welt gesehen, gefühlt, gehört, geliebt und erkannt haben. Jeder Geist hat seine Geschichte, jeder, der in Zukunft hier herabkommt, wird euch Wahres über die Welt dort oben zu berichten haben. Und ihr habt das Recht, sie zu hören, und sie müssen euch Auskunft geben.«
    Lyra bewunderte den Schneid des kleinen Spions. Woher nahm er das Selbstvertrauen, mit den Harpyien zu sprechen, als ob er die Macht hätte, ihnen Rechte zu geben? Jeder dieser Schreckensvögel hätte ihn im Handumdrehen fangen, mit den Krallen zerreißen oder in die Lüfte heben und dann am Boden zerschmettern können. Doch da stand er stolz und aufrecht und schloss einen Vertrag mit ihnen! Und sie hörten ihm zu! Danach besprachen sie sich mit leisen Stimmen untereinander.
    Alle Geister beobachteten sie eingeschüchtert und schweigend.
    Etwas später wandte sich Niemand an Tialys.
    »Das genügt uns nicht«, verkündete sie. »Wir wollen mehr. Unter der alten Ordnung hatten wir eine Aufgabe, einen Platz und eine Pflicht. Wir erfüllten die Anweisungen des Allmächtigen untadelig und standen dafür in Ehren. Wir waren gehasst und gefürchtet, wurden aber auch respektiert. Wo bliebe nach deinem Vorschlag unsere Ehre? Warum sollten uns die Geister respektieren, wenn sie einfach wieder in die Welt

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