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Das Bernstein-Teleskop

Das Bernstein-Teleskop

Titel: Das Bernstein-Teleskop Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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zu neigen und ihm zuzuhören. »Die Harpyien kommen zurück«, sagte er leise. »Sie werden immer mehr. Halte dein Messer bereit. Lady Salmakia und ich werden sie so lange wie möglich aufhalten, aber wahrscheinlich wirst du kämpfen müssen.«
    Ohne Lyra zu beunruhigen, löste Will das Messer in der Scheide. Tialys flog wieder davon, und Lyra setzte sich unter den Baum auf eine mächtige Wurzel.
    So viele Geister drängten sich mit großen Augen um Lyra, dass Will ihnen befahl, etwas zurückzutreten und Platz zu lassen. Nur Roger durfte bei Lyra bleiben, denn er schaute sie so innig an und hing an ihren Lippen.
    Und dann begann Lyra die ihr bekannte Welt zu beschreiben. Sie erzählte, wie sie zusammen mit Roger auf das Dach von Jordan College geklettert war und dort die Krähe mit dem gebrochenen Bein gefunden hatte. Wie die beiden den Vogel pflegten, bis er wieder fliegen konnte. Wie sie ein andermal die Weinkeller durchstöberten, ohne sich um Staub und Spinnweben zu kümmern, und vom Madeira probierten, vielleicht war es auch Tokaier gewesen, bis sie am Ende betrunken waren. Rogers Geist hörte gespannt zu, wirkte stolz und verzweifelt zugleich, nickte hin und wieder und sagte: »Ja, genauso war es. Das ist alles wahr.«
    Dann erzählte sie ihnen alles über die große Schlacht zwischen den Stadtkindern und den Kindern der Ziegelbrenner. Zuerst beschrieb Lyra die Lehmgruben und achtete darauf, keine Einzelheit auszulassen: die großen, ockergelben Teiche, die Schleppleine und die Brennöfen, die wie große Bienenkörbe aussahen. Sie erzählte von den Weidenbäumen am Flussufer mit ihren auf der Unterseite silbrig glänzenden Blättern. Sie erzählte, wie der Lehm, wenn die Sonne mehrere Tage lang geschienen hatte, in handliche Stücke aufbrach. Wie es sich anfühlte, die Finger in die Risse zu stecken und dann langsam einen halb trockenen, satten Klumpen herauszuheben, ohne dass er brach. Auf der Unterseite war der Lehm immer noch feucht und vorzüglich geeignet, Leute damit zu bewerfen.
    Dann beschrieb sie die Gerüche: den Rauch von den Brennöfen, den modrigen Geruch des Flusses, wenn der Wind aus Südwest kam, den Duft gebackener Kartoffeln, wie sie die Ziegelbrenner aßen. Dazu das Plätschern und Gurgeln des Wassers, das über Rinnen in Waschwannen lief. Auch das schmatzende Geräusch, wenn man einen Fuß aus dem morastigen Grund zog, und das schwere Klatschen der Paddel im lehmtrüben Wasser.
    Während ihrer Erzählung, mit der sie alle Sinne ihrer Zuhörer anzusprechen versuchte, drängten sich die Geister gebannt um sie, sogen begierig ihre Worte ein und erinnerten sich an die Zeit, als sie noch Fleisch und Haut, Nerven und Sinne besessen hatten. Wenn es nach ihnen gegangen wäre, hätte sie immer weiter erzählen können.
    Dann schilderte Lyra, wie die Ziegelbrennerkinder ständig im Krieg mit den Stadtkindern lagen. Freilich waren sie so dumm und träge, als ob sie Lehm im Kopf gehabt hätten, während die Stadtkinder pfiffig und rasch wie die Spatzen ihre Chance nutzten. Eines Tages nun begruben die Stadtkinder allen Streit untereinander und planten einen gemeinsamen Angriff auf die Lehmgruben. Sie trugen den Angriff von drei Seiten vor und drängten die Ziegelbrennerkinder mit immer neuen Ladungen schwerer Lehmklumpen zum Fluss hinunter. Dort rissen sie die Lehmburgen der Verteidiger nieder und fertigten aus den Wänden neue Wurfgeschosse an, bis Luft, Boden und Wasser nur noch aus Lehm zu bestehen schienen. Alle Kinder sahen am Ende gleich aus: vom Scheitel bis zur Sohle lehmverschmiert. Doch für jeden war es der größte Tag seines Lebens gewesen.
    Als Lyra zu Ende berichtet hatte, schaute sie erschöpft Will an. Und bekam einen Riesenschreck.
    Außer den Geistern, die still im Kreis um sie standen, und den Gefährten hatte sich noch eine weitere Zuhörerschar eingefunden. Auf den Ästen des Baumes hockten dicht gedrängt dunkle Vogelgestalten und schauten mit ihren Frauengesichtern ernst und gebannt zu ihr herab.
    Von Furcht ergriffen sprang Lyra auf, doch die Harpyien rührten sich nicht.
    »Ihr da«, rief sie aufgeschreckt, »ihr habt mich vorhin angegriffen, als ich euch etwas erzählen wollte. Was hält euch denn jetzt plötzlich zurück? Nur zu, stürzt euch mit den Krallen auf mich und macht einen Geist aus mir!«
    »Das wäre das Letzte, was wir tun würden«, sagte die Harpyie mit dem Namen Niemand. »Hör mir zu. Tausende von Jahren ist es her, dass die ersten Geister hierher kamen.

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