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Das Bernstein-Teleskop

Das Bernstein-Teleskop

Titel: Das Bernstein-Teleskop Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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Dæmon eines anderen zu berühren. Nicht nur aus Höflichkeit, sondern aus einem viel tieferen Grund verbot sich so etwas aus Scham. Ein kurzer Blick auf Wills gerötete Wangen belehrte sie, dass er das genauso gut wusste wie sie. Allerdings vermochte das Mädchen nicht zu erkennen, ob auch er dieses halb ängstigende, halb erregende Gefühl kannte, das sie empfand und das in der vorangegangenen Nacht erstmals über sie gekommen war, und nun schon wieder.
    Plötzlich scheu voreinander, gingen sie Seite an Seite weiter. Doch Will überwand die Scham wieder und sagte: »Wann hört dein Dæmon auf, seine Gestalt zu ändern?«
    »Im Alter von ... Ich glaube, ungefähr in unserem Alter oder etwas darüber. Wir haben oft darüber geredet, Pan und ich, und uns gefragt, wofür er sich wohl am Ende entscheiden würde -«
    »Habt ihr denn nicht eine bestimmte Ahnung?«
    »Nicht, solange man klein ist. Als Jugendlicher fragt man sich dann, was es sein könnte. Erhält der Dæmon schließlich seine endgültige Gestalt, passt sie gewöhnlich zu einem, das heißt zu dem, was für einen Charakter man hat. Wenn dein Dæmon ein Hund ist, dann bedeutet das, du tust gern, was man dir sagt, du möchtest immer wissen, wer der Chef ist, du führst Befehle aus und bist deinen Vorgesetzten gern gefällig. Viele Diener haben einen Hunde-Dæmon. Die Gestalt hilft einem zu erkennen, wer man ist und wo die eigenen Stärken liegen. Woher wissen die Menschen in deiner Welt, wer sie eigentlich sind?«
    »Keine Ahnung. Ich weiß nicht viel über meine Welt, denn ich war stets darauf bedacht, unauffällig, still und verschlossen zu sein. Über Erwachsene weiß ich nicht viel, auch nicht über Freunde oder Verliebte. Ich glaube aber, es wäre schwierig, einen Dæmon zu haben, weil jeder durch den bloßen Anblick so viel über den anderen erfahren würde. Ich bleibe lieber im Verborgenen.«
    »Dann könnte dein Dæmon ein Tier sein, das sich gut zu tarnen versteht. Oder ein Tier, das wie ein anderes aussieht - ein Schmetterling etwa, der sich als Wespe tarnt. Solche Wesen muss es auch in deiner Welt geben, denn es gibt sie in meiner, und unsere Welten ähneln sich so sehr.«
    Sie gingen in freundlichem Schweigen weiter. Der helle Morgen lag über den Senken und wölbte sich azurblau über der warmen Luft. Soweit das Auge reichte, dehnte sich die leere Savanne in glänzenden Braun-, Gold- und Grüntönen bis zum Horizont aus. Man hätte meinen können, sie seien die einzigen Menschen in dieser Welt.
    »Dieses Land ist nicht wirklich leer«, bemerkte das Mädchen.
    »Denkst du an diesen Mann?«
    »Nein. Du weißt schon, was ich meine.«
    »Ja. Ich sehe Schatten im Gras ... vielleicht Vögel«, sagte Will. Er verfolgte die kleinen hin und her huschenden Bewegungen und fand, dass die Schatten sogar leichter zu sehen waren, wenn er nicht direkt hinschaute. Sie tauchten eher auf, wenn er sie nur aus den Augenwinkeln beobachtete. Der Junge teilte Lyra seine Beobachtung mit und sie sprach von negativer Fähigkeit.
    »Was ist das?«
    »Der Dichter Keats hat diesen Begriff geprägt. Dr. Malone kennt ihn auch. So habe ich das Alethiometer gelesen. Und so hast du wohl auch das Messer benutzt.«
    »Ja, gut möglich. Ich dachte nur gerade, dass das die Dæmonen sein könnten.«
    »Genau das dachte ich auch, aber ... «
    Sie legte den Finger auf die Lippen. Er nickte.
    »Schau«, sagte er, »da ist ein umgestürzter Baum.«
    Die Kinder hatten Marys Kletterbaum erreicht. Sie gingen vorsichtig auf ihn zu und behielten das Wäldchen im Auge, falls noch mehr Stämme umfallen sollten. Jetzt am stillen Vormittag, wo nur ein leiser Wind die Blätter bewegte, mochte man kaum glauben, dass solche Baumriesen jemals stürzen könnten, doch der Beweis lag direkt vor ihnen.
    Der mächtige Stamm, der im Wäldchen von den in die Luft ragenden Wurzeln und draußen in der Prärie von der Masse der Äste gestützt wurde, schwebte hoch über ihren Köpfen. Manche zerbrochene Äste waren so stark wie die größten Bäume, die Will jemals gesehen hatte. Die Baumkrone mit ihrem dichten Astwerk und den immer noch grünen Blättern ragte wie eine Palastruine in die milde Luft.
    Plötzlich fasste Lyra Will am Arm.
    »Pst«, machte sie. »Schau nicht hin. Ich bin mir sicher, dass sie dort drüben sind. Da hat sich etwas bewegt, und wenn mich nicht alles täuscht, war das Pan ... «
    Ihre Hand war warm. Darauf achtete er mehr als auf das dichte grüne Laub und die Äste über ihnen. Während

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