Das Bernstein-Teleskop
voraus, wiegte sich auf einem Grashalm und wartete auf ihn, bis dieser zu ihm aufgeschlossen hatte, und flog dann weiter. Als sein Dæmon Witterung aufgenommen hatte, pries Pater Gomez den Allmächtigen für die Mission, die ihm anvertraut worden war; denn es erschien dem Jäger immer deutlicher, dass der Junge und das Mädchen im Begriff waren, eine Todsünde zu begehen.
Und nun sah er etwas Dunkelblondes aufleuchten, das musste das Haar des Mädchens sein. Der Pater pirschte sich noch näher heran und holte sein Gewehr hervor. Der Lauf war mit einem Zielfernrohr versehen: Die Vergrößerung war nur schwach, aber so ausgelegt, dass der Zielende den Ein druck hatte, ein helleres und erweitertes Blickfeld vor sich zu haben. Ja, da war sie. Sie hielt inne und schaute sich um, so dass er ihr direkt ins Gesicht sah. Er verstand nicht, wie ein dem Bösen geweihtes Wesen so vor Glück und Hoffnung strahlen konnte.
Diese Beobachtung verblüffte ihn so sehr, dass er zögerte und die Gelegenheit verstreichen ließ. Die Kinder waren in das Wäldchen gegangen und aus seinem Gesichtsfeld verschwunden. Nun, sie würden nicht weit gehen. Gomez folgte ihnen in gebückter Haltung den Bach entlang, in der einen Hand das Gewehr, mit der anderen sein Gleichgewicht haltend.
Der Erfolg schien ihm so zum Greifen nahe zu sein, dass er sich zum ersten Mal den Gedanken an die Zeit danach erlaubte. Was gefiele dem Himmelreich mehr: Wenn er nach Genf zurückkehrte oder sich zuerst an die Missionierung dieser Welt machte? Dazu müsste man diese vierbeinigen Ge schöpfe, die über eine rudimentäre Vernunft zu verfügen schienen, davon überzeugen, dass ihre Form der Fortbewegung auf Rädern naturwidrig und dem Willen Gottes zuwider sei. Hätte man ihnen das ausgetrieben, wäre auch für sie der Weg zum Heil offen.
Der Pater erreichte den Fuß des Berges, wo die ersten Bäume standen, und legte das Gewehr leise nieder.
Er starrte in die silbern, grün und golden schillernden Schatten, lauschte angespannt und hielt beide Hände hinter den Ohren, um auch gedämpfte Stimmen noch durch das Gesumme und Gezirpe der Insekten und das Geplätscher des Bachs wahrzunehmen. Ja, da waren die beiden. Sie hatten Rast gemacht.
Er bückte sich, um das Gewehr aufzuheben
Und keuchte plötzlich vor Schmerz, als ihm sein Dæmon fortgerissen wurde.
Wer oder was hatte das getan? Gomez konnte keinen Gegner entdecken. Wo war sein Dæmon? Er hörte ihn schreien und blickte auf der Suche nach ihm wild nach rechts und links.
»Rühr dich nicht«, ertönte eine Stimme von irgendwoher aus der Luft, »und sei still. Ich habe deinen Dæmon in der Hand.«
»Aber - wo bist du? Und wer bist du?«
»Ich heiße Balthamos«, sagte die Stimme.
Will und Lyra folgten dem Bach in den Wald hinein. Sie bewegten sich vorsichtig und sprachen wenig, bis sie in der Mitte des Gehölzes waren.
Dort öffnete sich eine kleine Lichtung mit weichem Gras und moosbedeckten Felsen. Die Zweige verschränkten sich über ihren Köpfen und versperrten fast den Blick zum Himmel, nur hier und da zitterten Sonnenflecke, so dass alles in einem Halbschatten aus Gold und Silber lag.
Stille herrschte. Bis auf das Plätschern des Bachs und das Rascheln der Blätter, durch die eine leichte Brise wehte, war kein Geräusch zu hören.
Will packte den Proviant aus, und Lyra legte ihren kleinen Rucksack ab. Die vorhin noch wie Schatten dahinhuschenden Dæmonen ließen sich nicht blicken. Die Kinder waren ganz allein.
Sie zogen Schuhe und Strümpfe aus, setzten sich auf die moosbedeckten Felsen am Bachufer und steckten die Füße ins Wasser. Die Kühlung, die das kalte Wasser brachte, belebte sie.
»Ich habe Hunger«, sagte Will.
»Ich auch«, sagte Lyra, obgleich sie noch etwas anderes fühlte, etwas Unterdrücktes, Drängendes, etwas, das sie quälte und doch auch glücklich machte. Sie wusste nicht recht, was es eigentlich war. Die beiden breiteten das Tuch aus und aßen Brot und Käse. Aus irgendeinem Grund bewegten sich ihre Hände langsam und ungeschickt und sie schmeckten gar nicht, was sie zu sich nahmen, weder das mehlbestäubte knusprige Brot aus dem Steinofen, noch den frischen, angenehm salzigen Käse.
Dann nahm Lyra eine von den kleinen roten Früchten. Mit klopfendem Herzen wandte sie sich Will zu und sagte: »Will ...«
Und sie hob die Frucht sanft zu seinen Lippen.
An seinen Augen erkannte sie, dass er verstand, was sie sagen wollte, und dass er vor Freude nicht sprechen
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