Das Bernstein-Teleskop
versuchte sich ein Bild zu machen, wie groß der andere war, wie schnell er vorwärts kam und wohin erschaute.
»Bitte«, sagte er mit gebrochener Stimme, »du kannst dir nicht vorstellen, wie weh das tut - ich vermag doch gar nichts gegen dich - lass uns rasten und miteinander reden.«
Balthamos drehte sich um. Der Geistliche blickte zu der Stelle, wo er das Gesicht des Engels vermutete, und erblickte es zum ersten Mal: nicht mehr als einen Lichtschatten in der Luft, doch damit hatte er genug gesehen.
Er war noch nicht nahe genug, um ihn mit einem Sprung zu erreichen. Tatsächlich hatte ihn die Trennung von seinem Dæmon geschwächt. Vielleicht sollte er noch ein oder zwei Schritte tun.
»Setz dich«, sagte Balthamos, »setz dich dahin, wo du bist. Und keinen Schritt weiter.«
»Was willst du?«, fragte Pater Gomez ohne sich zu rühren.
»Was ich will? Dich umbringen, aber mir fehlt die Kraft dazu.«
»Aber bist du nicht ein Engel?«
»Ja und?«
»Du könntest einen Fehler begehen. Wir könnten auf derselben Seite stehen.«
»Nein, das tun wir nicht. Ich bin dir gefolgt und weiß, auf wessen Seite du stehst - nein, rühr dich nicht. Bleib, wo du bist.«
»Noch ist es nicht zu spät, Buße zu tun und umzukehren. Auch Engeln steht diese Möglichkeit offen. Gerne will ich dein Beichtvater sein.«
»Oh, Baruch, hilf mir!«, rief Balthamos verzweifelt und wandte sich ab.
In dem Augenblick stürzte sich Pater Gomez auf ihn. Mit der Schulter traf er die Schulter des Engels und brachte Balthamos aus dem Gleichgewicht. Dieser streckte einen Arm aus, um sich wieder zu fangen, ließ dabei aber den Dæmon entweichen. Der Käfer flog davon und mit der Erleichterung, die im selben Augenblick einsetzte, spürte Pater Gomez auch eine Welle neuer Kraft.
Gerade das aber wurde ihm zum Verhängnis. Er warf sich mit solchem Schwung gegen die schemenhafte Engelsgestalt, von der er viel mehr Widerstand erwartet hätte, dass er das Gleichgewicht verlor. Er rutschte aus und fiel auf das Bachufer; Balthamos, der daran dachte, was Baruch in dieser Situation getan hätte, trat die Hand des Priesters weg, als dieser sich abzustützen versuchte.
Pater Gomez stürzte schwer. Er prallte mit dem Schädel gegen einen Stein und fiel dann mit dem Gesicht ins Wasser. Das kalte Wasser weckte ihn sofort wieder, doch als er sich schnaufend erheben wollte, versammelte Balthamos, ohne auf das Stechen und Beißen des Käfer-Dæmons zu achten, das wenige Gewicht, das er aufbieten konnte, und drückte den Kopf des Mannes unter Wasser und hielt ihn dort.
Erst als der Dæmon mit einem Mal verschwand, ließ Balthamos los. Der Mann war tot. Als kein Zweifel mehr möglich war, zog Balthamos die Leiche aus dem Bach, legte sie behutsam ins Gras, faltete dem Priester die Hände über der Brust und schloss ihm die Augen. Erschöpft und voller Qual erhob sich Balthamos.
»Oh, Baruch«, klagte er, »mein lieber Baruch, ich kann nicht mehr. Will und das Mädchen sind in Sicherheit, alles wird gut, aber für mich ist es das Ende. In Wahrheit bin ich schon gestorben, als du mich für immer verlassen hast, Baruch.«
Im nächsten Augenblick war auch er tot.
Mary saß benommen von der nachmittäglichen Hitze im Bohnenfeld, als sie Atals Stimme vernahm. Ob freudige Erregung oder Furcht aus der Stimme der Freundin sprachen, war nur schwer auszumachen. War ein weiterer Riesenbaum umgestürzt? Oder der Mann mit dem Gewehr wieder aufgetaucht?
Schau! Schau!, sagte Atal und stieß mit dem Rüssel an Marys
Tasche. Offenbar wollte ihre Freundin, dass sie das Bernstein-Teleskop herausnehmen und den Himmel betrachten sollte.
Sag mir, was da oben vorgeht!, drängte Atal. Ich spüre eine Veränderung aber ich kann nichts sehen.
Die gewaltige Staubströmung im Himmel hatte aufgehört. Aber vollkommenen Stillstand gab es dort oben noch lange nicht. Mary suchte den ganzen Himmel mit dem Teleskop ab und entdeckte eine kleine Strömung hier, einen Wirbel da, und weiter entfernt einen Strudel: Alles war ständig in Bewegung. Aber der Staub trieb nicht mehr davon. Wenn überhaupt, dann fiel er wie Schneeflocken.
Sie dachte an die Rad-Bäume: Die nach oben sich öffnenden Blütenkelche würden den goldenen Regen auffangen. Mary glaubte zu spüren, wie ihre ausgedörrten Kehlen, die dafür so wunderbar geschaffen waren, diese Gabe willkommen hießen.
Der Junge und das Mädchen, sagte Atal.
Mary drehte sich um, das Teleskop noch in der Hand, und sah Will und Lyra
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