Das Bernstein-Teleskop
unterdrückter Aufschrei, und die beiden bekreuzigten sich eiligst. Fra Pavel zuckte nervös zusammen, ehe er fortfuhr: »Ich bitte eines nicht zu vergessen - das Alethiometer vermag nichts vorauszusagen. Es verkündet nur, dass unter gewissen Voraussetzungen bestimmte Folgen eintreten. Das Gerät sagt, wenn das Mädchen wie seinerzeit Eva in Versuchung geführt wird, wird es sündigen. Und davon hängt alles ab. Wenn sie versucht wird und der Versuchung erliegt, werden der Staub und die Sünde triumphieren.«
Im Gerichtssaal herrschte Schweigen. In den bleichen Sonnenstrahlen, die schräg durch die hohen, bleigefassten Fenster fielen, tanzten eine Million goldener Partikel, doch handelte es sich dabei um ganz gewöhnlichen Staub, nicht um den Staub. Dennoch diente er einigen Mitgliedern des Gerichts als Veranschaulichung jenes anderen, unsichtbaren Staubs, der von anderswo kam und den die Menschen unweigerlich anzogen, mochten sie die Gesetze noch so peinlich genau einhalten.
»Eine letzte Frage, Fra Pavel«, sagte der Inquisitor. »Was wissen Sie über den gegenwärtigen Aufenthaltsort des Kindes?«
»Es befindet sich in den Händen von Mrs. Coulter«, sagte Fra Pavel. »Die beiden sind im Himalaja. Mehr kann ich noch nicht sagen. Aber ich mache gleich weiter und frage das Alethiometer nach dem genauen Ort. Sobald ich ihn kenne, werde ich ihn dem Gericht mitteilen. Allerdings ...«
Ängstlich brach er ab und führte mit zitternden Fingern das Glas an die Lippen.
»Ja, Fra Pavel?«, sagte der Vorsitzende, Pater MacPhail. »Verbergen Sie uns nichts.«
»Ich glaube, die Gesellschaft der Werke des Heiligen Geistes weiß darüber mehr als ich, Exzellenz.«
Fra Pavel flüsterte jetzt fast.
»Tatsächlich?«, sagte der Vorsitzende, und seine Augen funkelten vor unterdrückter Erregung.
Von Fra Pavels Dæmon kam ein klägliches Quaken. Der Geistliche wusste von der Rivalität der Abteilungen des Magisteriums. Er wusste auch, wie gefährlich es war, ins Kreuzfeuer der beiden Abteilungen zu geraten. Doch zu verschweigen, was er wusste, erschien ihm noch gefährlicher.
»Ich glaube, dass man dort noch vor uns wissen wird, wo das Kind ist«, fuhr er mit zittriger Stimme fort. »Man schöpft in der Gesellschaft aus Quellen, die mir verboten sind.«
»So ist es«, erklärte der Inquisitor. »Hat das Alethiometer Ihnen das gesagt?«
»Jawohl.«
»Also gut. Sie fahren mit Ihrer Befragung des Alethiometers fort, Fra Pavel. Fordern Sie alles an geistlicher und organisatorischer Hilfe an, was Sie brauchen. Sie dürfen den Zeugenstand verlassen.«
Fra Pavel verbeugte sich, sammelte seine Notizen ein und verließ mit seinem Frosch-Dæmon auf der Schulter den Gerichtssaal. Die Nonnen lockerten ihre Finger, und der Vorsitzende klopfte mit einem Bleistift auf die Eichenplatte vor ihm.
»Schwester Agnes und Schwester Monica, Sie können sich jetzt ebenfalls zurückziehen. Lassen Sie mir die Reinschrift des Protokolls bitte bis heute Abend zukommen.«
Die beiden Nonnen verneigten sich und gingen.
»Meine Herren«, sagte Pater MacPhail, denn so lautete die offizielle Anrede der Mitglieder des Disziplinargerichts, »ziehen wir uns zur Beratung zurück.«
Die zwölf Mitglieder - von Pater Makepe, dem Ältesten, mit den rheumatischen Augen, bis zu Pater Gomez, dem Jüngsten, bleich und von Glaubenseifer durchdrungen - sammelten ihre Unterlagen ein und folgten dem Vorsitzenden in das Beratungszimmer, in dem sie einander an einem Tisch ge genübersaßen und vollkommen ungestört reden konnten.
Der gegenwärtige Vorsitzende des Geistlichen Disziplinargerichts, ein Schotte namens Hugh MacPhail, war in jungen Jahren gewählt worden. Da man dieses Amt auf Lebenszeit innehatte und er erst in den Vierzigern war, stand zu erwarten, dass MacPhail die Geschicke des Gerichts und damit der ganzen Kirche noch auf längere Zeit bestimmen würde. Er hatte eine dunkle Haut, war hoch gewachsen und breitschultrig, hatte dichte graue Haare und hätte wohl Speck angesetzt, hätte er seinen Körper nicht mit einem unerbittlich asketischen Lebenswandel gezüchtigt. Er trank nur Wasser, aß nur Brot und Obst und ertüchtigte seinen Körper täglich eine Stunde unter Anleitung eines professionellen Trainers. Infolgedessen war er ausgemergelt und ruhelos, sein Gesicht von zahlreichen Falten durchzogen. Als Dæmon hatte er eine Eidechse.
Alle nahmen Platz.
»Ich fasse noch einmal zusammen«, eröffnete MacPhail die Beratung. »Erstens Lord Asriel.
Weitere Kostenlose Bücher