Das Bernstein-Teleskop
das Messer an sich. Es fühlte sich wieder ganz an; erst jetzt ging ihm auf, wie sehr er es liebte.
»Aber ihr müsst auf Lord Asriels Gyropter warten«, entgegnete Tialys mit schneidender Stimme.
»Das werden wir nicht«, sagte Will. »Wenn Sie dem Messer zu nahe kommen, töte ich Sie. Kommen Sie mit uns, wenn Sie meinen, das tun zu müssen. Aber Sie können uns nicht zwingen, hier zu bleiben. Wir gehen jetzt.«
»Ihr habt uns angelogen!«
»Nein«, sagte Lyra. »Ich habe gelogen. Will lügt nicht. Daran haben Sie nicht gedacht.«
»Wohin geht ihr denn?«
Will antwortete nicht. Er tastete sich im Halbdunkel voran und schnitt dann mit dem Messer eine Öffnung.
Salmakia redete ihm ins Gewissen: »Das ist ein Fehler. Ihr solltet das einsehen und auf uns hören. Ihr habt das nicht durchdacht -«
»Doch, wir haben sehr wohl darüber nachgedacht«, entgegnete Will. »Wir berichten Ihnen morgen darüber. Sie können mit uns kommen oder zurück zu Lord Asriel gehen.«
Das Fenster ging auf die Welt, in die Will mit Baruch und Balthamos geflohen war und wo sie ungestört geschlafen hatten: der warme endlose Sandstrand mit den farnähnlichen Bäumen hinter den Dünen. Will sagte:
»Hier - wir schlafen hier.«
Er ließ die anderen durch die Öffnung steigen und schloss sie wieder hinter ihnen. Während er und Lyra vor Müdigkeit auf der Stelle umfielen und einschliefen, hielt Lady Salmakia Wache. Der Chevalier aber öffnete den Magnetstein Resonator und schickte eine Botschaft in die dunkle Nacht.
Der Intentionsgleiter
»Mein Kind, meine Tochter! Wo ist sie? Was habt ihr mit ihr gemacht? Meine Lyra – ach, hättet ihr mir doch das Herz aus dem Leib gerissen – sie war bei mir geborgen, und wo ist sie nun?«
Mrs. Coulters Schreie erfüllten den kleinen Raum ganz oben im diamantenen Turm. Sie war an einen Stuhl gefesselt, das Haar zerzaust, die Kleider zerrissen, die Augen wild funkelnd; neben ihr auf dem Boden zerrte ihr ebenfalls gefesselter Affen-Dæmon an einer Silberkette. Lord Asriel saß daneben und schrieb, ohne sie weiter zu beachten, etwas auf einen Zettel. Ein Ordonanzoffizier stand neben ihm und warf nervöse Blicke auf die Frau. Als ihm Lord Asriel den Zettel reichte, salutierte der Mann und verließ eilig den Raum, dicht gefolgt von seinem Dæmon, einer Terrierhündin mit eingeklemmtem Schwanz.
Dann wandte sich Lord Asriel an Mrs. Coulter.
»Lyra? Offen gesagt, sie ist mir gleichgültig«, sagte er mit ruhiger, leiser Stimme. »Das schreckliche Mädchen hätte an seinem Platz bleiben und tun sollen, was man ihm gesagt hat. Ich kann nicht noch mehr Zeit und Mittel an sie verschwenden. Wenn sie sich nicht helfen lassen will, dann soll sie auch die Konsequenzen tragen.«
»Das kann doch nicht dein Ernst sein, Asriel, oder wolltest du -« »Ich meine es so, wie ich es sage. Der Ärger, den sie uns macht, steht in keinem Verhältnis zu ihren Verdiensten. Ein ganz gewöhnliches Schulmädchen, nicht besonders begabt -«
»Doch, begabt ist sie!«, widersprach Mrs. Coulter.
»Na schön, ein helles Köpfchen, aber keineswegs intellektuell; vielmehr impulsiv, unehrlich, zügellos -«
»Mutig, großzügig, liebevoll.«
»Ein ganz gewöhnliches Mädchen ohne hervorstechende Qualitäten -«
»Ein gewöhnliches Mädchen? Lyra? Sie ist einzigartig. Denk daran, was sie schon alles getan hat. Du magst sie ja vielleicht nicht, Asriel, aber sprich nicht abfällig von deiner Tochter. Und sie war bei mir geborgen, bis -«
»Ich gebe dir Recht«, sagte er und erhob sich. »Sie ist einzigartig. Dass sie dich gezähmt und besänftigt hat, ist keine alltägliche Leistung. Sie hat dir deinen Giftzahn gezogen, Marisa. Dein Feuer ist in sentimentalem Mitleid ertränkt worden. Wer hätte das gedacht? Der gnadenlose Tribun der Kirche, die fanatische Kinderverfolgerin, die Erfinderin grässlicher Maschinen, die Kinder von ihrem Dæmon abtrennen, um dann in den erschrockenen kleinen Wesen nach Beweisen für die Sünde zu suchen - und dann kommt so ein unverschämtes und ungebildetes kleines Gör mit schmutzigen Fingernägeln daher und schon breitest du deine Fittiche aus und behütest sie wie eine Glucke ihr Küken. Ja, zugegeben, das Kind muss eine besondere Gabe haben. Doch wenn die lediglich darin besteht, aus dir eine in ihr Kind vernarrte Mutter zu machen, dann ist das eine ziemlich dürftige, geistlose Gabe. Deshalb schweig lieber. Ich habe meine Oberbefehlshaber zu einer dringenden Besprechung zu mir
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