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Das Bernstein-Teleskop

Das Bernstein-Teleskop

Titel: Das Bernstein-Teleskop Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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sie wieder so sehr vorn Forscherdrang gepackt, dass sie sich an ihren alten Arbeitsplatz zurücksehnte.
    Sie hatte nicht erwartet, dass Atal ihren Ausführungen folgen könnte. Zum einen wegen ihrer unzureichenden Kenntnis der Mulefa-Sprache, zum anderen, weil die Mulefa einen praktischen Verstand besaßen und fest in der physischen Alltagswelt verankert waren, während vieles, was Mary vorbrachte, theoretischer mathematischer Natur war. Doch Atal verblüffte sie mit der Bemerkung: Ja - das kennen wir auch - wir nennen so etwas ... und dann sagte sie etwas, das wie das Mulefa-Wort für »Licht« klang.
    Mary fragte: Licht? Und Atal erwiderte: Nicht Licht, sondern ... und sprach das Wort für Mary langsamer aus und erläuterte es:
    Wie das Licht bei Sonnenuntergang auf kräuselndem Wasser, wenn es in hellen Flocken herabkommt, dann nennen wir es so, aber es ist nur ein Gleich-wie.
    Mary hatte herausgefunden, dass dieser Ausdruck für Metapher stand.
    Sie sagte: Es ist kein wirkliches Licht, aber man kann es sehen und es ähnelt dem Licht auf dem Wasser bei Sonnenuntergang. Richtig?
    Atal bestätigte das. J a. Alle Mulefa haben das. Auch du. Daran haben wir erkannt, dass du wie wir bist und nicht wie die Grasfresser, die es nicht haben. Obgleich du so merkwürdig und schrecklich aussiehst, bist du wie wir, denn du hast - und wieder folgte dieses Wort, das Mary nicht deutlich genug verstand, um es nachzusprechen. Es klang wie Sraf oder Sarf und wurde von einer raschen Linksbeugung des Rumpfes begleitet.
    Mary wurde ganz aufgeregt. Sie musste sich zur Ruhe zwingen, um die richtigen Wörter zu finden.
    Was weißt du darüber? Woher kommt es?
    Aus uns selbst und aus dem Öl, lautete Atals Antwort, und Mary wusste, dass Atal damit das Öl in den großen Samenkapselrädern meinte.
    Aus euch?
    Wenn wir erwachsen sind. Aber ohne die Bäume würde es wieder verschwinden. Mit den Rädern und dem Öl bleibt es bei uns.
    Wenn wir erwachsen sind ... Wieder musste Mary sich zwingen, nicht wild zu spekulieren. Ein Verdacht, den sie seit längerem über Schatten hegte, war, dass Kinder und Erwachsene unterschiedlich darauf reagierten oder verschiedene Arten von Schattenaktivität anzogen. Hatte Lyra nicht berichtet, dass die Wissenschaftler in ihrer Welt etwas Ähnliches über den Staub - das war ihr Name für Schatten - herausgefunden hatten? Und hier traf sie auf das gleiche Phänomen.
    Das passte auch zu dem, was ihr die Schatten auf dem Computerbildschirm mitgeteilt hatten, ehe sie ihre Welt verlassen hatte: Was immer dahinter stecken mochte, es hatte mit dem großen Umbruch in der Menschheitsgeschichte zu tun, der seinen Ausdruck in der biblischen Geschichte von Adam und Eva gefunden hatte: Versuchung durch den Teufel, Sündenfall und Erbsünde. Ihr Kollege Oliver Payne hatte bei seinen Forschungen an fossilen Schädeln entdeckt, dass vor rund dreißigtausend Jahren die Anzahl der Schattenteilchen in menschlichen Knochenfunden signifikant angestiegen war. Irgendetwas musste sich damals ereignet haben, ein Sprung in der Evolution, durch den das menschliche Gehirn sich zum idealen Gefäß für die Verstärkung der Schattenwirkungen entwickelt hatte.
    Sie fragte Atal:
    Wie lange gibt es Mulefa schon?
    Und Atal antwortete:
    Dreiunddreißigtausend Jahre.
    Atal hatte gelernt, Marys Mienenspiel zu lesen oder zumindest die eindeutigen Gefühlsausdrücke in ihrem Gesicht zu erkennen. So lachte sie jetzt laut, als sie Marys Kinnlade herunterfallen sah. Ihr Lachen war so frei, vergnügt und ansteckend, dass Mary gewöhnlich nicht umhinkonnte, darin einzufallen, doch nun blieb sie ernst und fragte immer noch verblüfft:
    Woher wisst ihr das so genau? Habt ihr denn eine Chronik all jener Jahre?
    Aber ja, antwortete Atal. Seit wir über Sraf verfügen, verfügen wir über Gedächtnis und Bewusstsein. Vorher wussten wir gar nichts.
    Welchem Ereignis verdankt ihr das Sraf.?
    Das hängt mit dem Gebrauch der Räder zusammen. Eines Tages entdeckte ein Mulefa ohne Namen eine Samenkapsel und begann damit zu spielen, und beim Spielen kam ihr.
    Ihr?
    Ja, ihr. Sie hatte noch keinen Namen. Nun, sie sah, wie sich eine Schlange durch das Loch in einer Samenkapselwand, und die Schlange sagte.
    Die Schlange sprach zu ihr?
    Nein, nein! Das ist nur ein Gleich-wie. Sie sah, wie die Schlange in das Loch hinein - und wieder herausschlüpfte, worauf sie einen Fuß dorthin stellte, wo die Schlange gewesen war. Und das Öl drang in ihren Fuß und erleuchtete sie,

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