Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Bernstein-Teleskop

Das Bernstein-Teleskop

Titel: Das Bernstein-Teleskop Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
Vom Netzwerk:
bei einem Glaser gesehen hatte, der eine Glasscheibe durchtrennte. Und es klappte: Mary hatte nun zwei Scheiben.
    Sie legte sie übereinander und schaute hindurch. Die Bernsteinfarbe war nun kräftiger, und wie bei einem fotografischen Filter kamen bestimmte Farben stärker und andere schwächer heraus, wodurch die Landschaft insgesamt einen anderen Charakter bekam. Merkwürdig erschien ihr nur, dass die Doppelbrechung verschwunden war. Von Schatten war allerdings nichts zu sehen.
    Mary bewegte die beiden Scheiben voneinander weg und beobachtete, wie sich die Erscheinungsweise der Dinge veränderte. Als beide in einem Abstand von etwa einer Handspanne zueinander standen, geschah etwas Merkwürdiges: Die Bernsteinfarbe verschwand und alles bekam wieder seine ursprüngliche Farbe, nur klarer und lebhafter.
    Gerade in dem Augenblick kam Atal vorbei und schaute zu, was sie da ausprobierte.
    Kannst du jetzt das Sraf sehen? fragte sie.
    Nein, aber ich kann andere Dinge sehen, antwortete Mary und versuchte es ihr zu zeigen.
    Atal zeigte nur höfliches Interesse, aber keinen Entdeckergeist wie Mary und schon bald ließ sich der weibliche Zalif, müde vom angestrengten Schauen, auf dem Gras nieder und wartete seine Räder. Für alle Mulefa war das eine tägliche Übung. Sie lockerten den Griff der Krallen, bis die Räder loskamen, prüften, ob die Ränder Risse und das Loch Verschleiß aufwiesen, und putzten dann die Krallen sehr sorgfältig. Manchmal putzten sie sich aus Gefälligkeit auch gegenseitig die Krallen. Ein-, zweimal hatte Atal Mary gebeten, dies für sie zu tun. Mary ließ sich ihrerseits von Atal das Haar pflegen und genoss es, wie der weiche Rüssel den Haarschopf aufnahm und wieder fallen ließ und die Kopfhaut massierte.
    Mary spürte, dass Atal sich gerade das jetzt wünschte.
    Deshalb legte sie die beiden Lackscheiben beiseite und fuhr mit der Hand über Atals erstaunlich glatte Krallen. Mit einer Oberfläche wie Teflon passte die Kralle in das Loch in der Mitte und diente als Lagerung für das sich drehende Rad. Als Mary über die Innenseite des Rades tastete, spürte sie keinen Unterschied in der Beschaffenheit. Fast hätte man meinen können, bei den Mulefa und den Samenkapseln handele es sich um ein und dasselbe Lebewesen, das sich wie durch ein Wunder selbst auseinander nehmen und wieder zusammensetzen konnte.
    Die Berührung verschaffte Atal ein Gefühl des Wohlbehagens, und Mary erging es ähnlich. Ihre Freundin war noch jung und ledig, und da es keinen männlichen Zalif ihres Alters in der Gruppe gab, würde sie sich auswärts einen passenden Partner suchen müssen. Doch war es nicht leicht, Kontakt zu anderen Gruppen zu finden, und manchmal hatte Mary den Eindruck, Atal mache sich Sorgen um ihre Zukunft. So kam Mary die Zeit nicht als vertan vor, die sie mit ihr verbrachte, und es bereitete ihr sogar Vergnügen, die Radlöcher von Staub und Schmutz zu befreien, und die Krallen mit dem wohlriechenden Öl einzureiben, während ihr Atal mit ihrem Rüssel das Haar kraulte.
    Dann war es Atal genug. Sie setzte wieder die Räder ein und fuhr heimwärts, um beim Abendessen zu helfen. Mary kehrte zu ihren Experimenten mit dem Lack zurück, und dabei machte sie eine Entdeckung.
    Sie hielt die beiden Scheiben wieder in einem Abstand von einer Spanne, damit das klare, helle Bild entstand, das sie vor her schon gesehen hatte. Doch diesmal geschah etwas Neues.
    Beim Hindurchschauen sah sie goldene Funken um Atal sprühen. Diese Funken waren nur an einer Stelle der Lackscheibe sichtbar, und Mary erkannte sogleich, warum: An dieser Stelle hatte sie die Oberfläche mit ihren öligen Fingern berührt.
    Atal!, rief sie. Rasch, komm her.
    Atal wendete und rollte zurück.
    Darf ich mir ein bisschen Öl von dir nehmen?, bat Mary. Ich möchte die Lackscheibe damit bestreichen.
    Atal ließ Mary gern gewähren und schaute zu, wie sie mit einem Finger um die Radlöcher fuhr und dann eine der beiden Lackscheiben mit einer dünnen Schicht des durchsichtigen feinen Öls bestrich.
    Dann drückte sie die Scheiben aneinander und bewegte sie kreisend, damit sich das Öl gleichmäßig verteilte, und hielt sie wieder eine Spanne weit auseinander.
    Als Mary nun durchschaute, hatte sich alles verändert. Jetzt konnte sie Schatten sehen. Wenn sie im Ruhezimmer des Jordan College gewesen wäre, als Lord Asriel die mit einer Spezialemulsion angefertigten Fotogramme gezeigt hatte, hätte sie die Wirkung wieder erkannt. Wohin sie jetzt

Weitere Kostenlose Bücher