Das Bernstein-Teleskop
sich wieder auf, hinderte König Ogunwe daran, seinen Soldaten den Befehl zu geben, auf den Intentionsgleiter zu schießen, und bat Lord Roke: »Haben Sie bitte die Güte, mit ihr zu fliegen.«
Der Gallivespier trieb seinen Falken an und sogleich sauste der Vogel pfeilschnell in die noch offene Pilotenkanzel.
Die Beobachter am Boden sahen, wie die Frau mit den Instrumenten und Hebeln beschäftigt war und der goldene Affe ihr zu helfen versuchte. Beiden entging so, wie Lord Roke von seinem Flugtier sprang und im Cockpit verschwand.
Einen Augenblick später setzte sich der Intentionsgleiter in Bewegung und der Falke stieß abwärts, um sich auf Lord Asriels Arm zu setzen. Keine zwei Sekunden später war die Maschine in der Sternennacht verschwunden.
Lord Asriel schaute ihr bedauernd und bewundernd zugleich nach.
»Ja, Majestät, Sie hatten Recht«, sagte er zu König Ogunwe. »Ich hätte von Anfang an auf Sie hören sollen. Mrs. Coulter ist Lyras Mutter, ich hätte auf so etwas gefasst sein müssen.«
»Wollen Sie sie denn nicht verfolgen?«, fragte König Ogunwe.
»Wie das? Die intakte Wunderwaffe zum Beschuss freigeben? Auf gar keinen Fall.«
»Wohin wird sie Ihrer Meinung nach fliegen? Will sie ihr Kind finden?«
»Nicht gleich. Noch weiß sie nicht, wo sie Lyra suchen soll. Ich kann mir denken, was sie tun wird. Sie fliegt zum Geistlichen Gericht und übergibt ihm den Intentionsgleiter als Beweis für ihre Loyalität, und dann wird sie für uns spionieren. Diese Frau hat schon oft ein doppeltes Spiel gespielt, aber dieses hier stellt wohl selbst für sie etwas Neues dar. Sobald Mrs. Coulter herausgefunden hat, wo das Mädchen steckt, wird sie zu ihm gehen und dann heften wir uns an ihre Fersen.«
»Und wann wird Lord Roke ihr eröffnen, dass er ihr die ganze Zeit über gefolgt ist?«
»Oh, das wird er sich als besondere Überraschung aufheben.«
Die Herren lachten und begaben sich dann zurück in die Werkstätten, wo ein neuer, verbesserter Typ des Intentionsgleiters auf ihre Begutachtung wartete.
Öl und Lack
Mary Malone fertigte sich einen Spiegel an. Nicht aus Eitelkeit, denn daran litt sie kaum, sondern weil sie eine Idee ausprobieren wollte. Sie wollte Schatten einfangen und bestimmten Tests unterziehen. Ohne ihre Laborapparate musste sie mit den Mitteln improvisieren, die sie zur Hand hatte.
Die Technik der Mulefa kannte kaum Metall. Sie schufen Außerordentliches mit Stein, Holz, Schnur, Muscheln und Horn. Das wenige Metall, das sie besaßen, hämmerten sie aus Klümpchen von Kupfer und anderen Erzen, die sie im Sand des Flusses fanden. Metall verwendeten sie nie zur Werkzeugherstellung, sondern ausschließlich als Schmuck. So tauschten Mulefa-Paare zu Beginn ihrer Ehe glänzende Kupferstreifen aus, die sie um ihr Horn bogen und ähnlich wie einen Ehering trugen.
Umso mehr faszinierte sie das Schweizermesser, das Mary zu ihrem kostbarsten Besitz zählte.
Atal, ein weiblicher Zalif, mit dem sich Mary angefreundet hatte, war begeistert, als Mary das Messer aufklappte und ihr die einzelnen Teile zeigte. Die Wissenschaftlerin erklärte ihr alles, so gut es ihre beschränkte Kenntnis der Mulefa-Sprache erlaubte. Unter anderem befand sich auch eine Miniaturlupe an dem Messer, mit der sie eine Zeichnung auf einen trockenen Ast brannte. Das brachte sie auf den Gedanken mit den Schatten.
Damals fischten die beiden gerade. Der Fluss führte nur wenig Wasser, und die Fische mussten wohl in andere Gewässer gezogen sein.
Deshalb ließen die beiden das Netz im Wasser liegen und setzten sich stattdessen am Ufer ins Gras. Dann entdeckte Mary den trockenen Ast, der eine glatte weiße Oberfläche aufwies. Sie brannte die Zeichnung ein schlichtes Gänseblümchen - in das Holz und entzückte damit Atal. Beim Anblick der dünnen Rauchfahne, die von dem Punkt aufstieg, wo die unter der Lupe gebündelten Sonnenstrahlen das Holz berührten, kam Mary plötzlich ein Gedanke. Wenn das einmal versteinert wäre, dachte sie, und ein Wissenschaftler es in zehn Millionen Jahren fände, dann wäre das ein Beleg für Schatten, denn ich habe dieses Holz bearbeitet.
Im warmen Sonnenlicht verfiel sie in eine Tagträumerei, aus der sie Atal mit der Frage riss:
Worüber sinnierst du denn gerade?
Mary berichtete ihr, so gut sie konnte, von ihrer Forschungsarbeit, dem Labor, der Entdeckung der Schattenteilchen und dem sensationellen Befund, dass es sich dabei um eine Form von Bewusstsein handelte. Beim Reden wurde
Weitere Kostenlose Bücher