Das Bernsteinerbe
für den Patienten zu bitten. Doch wozu? Wahrscheinlich bekam er nichts davon mit. Es störte nur sie selbst. Langsam erhob sie sich.
Der Lärm schwoll an. Aufgebrachte Stimmen stritten miteinander. Als sie näher kamen, unterschied Carlotta Frauen- und Männerstimmen. Christoph! Nein. Das konnte nicht sein. Wieso sollte er in Frauenburg auftauchen? Eine weitere bekannte Stimme meinte sie herauszuhören. Caspar Pantzer. Der mochte jedoch ebenso wenig wie sein Freund im Heilig-Geist-Spital auftauchen.
Die Hitze in dem Raum, die Schatten an der Wand, die Angst vor Tante Adelaide – all das vermischte sich zu einem düsteren Brei, der sie zu ersticken drohte. Erschöpft suchte sie Halt an der Wand, lehnte die Stirn dagegen, genoss den Moment der Kühle. Es war einfach zu viel, binnen weniger Tage zwei halbtote Kranke zu betreuen. Ach, was dachte sie nur für einen Unsinn!, schalt sie sich. Was hatte die Mutter im Großen Krieg getan? Über Jahre hatte sie ohne Unterlass Tag und Nacht bei Schwerverletzten gewacht. Carlotta sank der Mut. Sie war eben keine richtige Wundärztin. Sie versagte schon bei der geringsten Herausforderung. Sie rutschte mit dem Rücken an der Wand entlang auf den Fußboden hinunter.
»Carlotta, Liebes.« Die Tür öffnete sich, und Magdalena trat ein. Zaghaft tippte sie ihr mit den Fingerspitzen auf die Schultern. »Schläfst du?«
Carlotta fuhr hoch. Tatsächlich waren ihr gerade die Augen zugefallen. Erschrocken blinzelte sie. Nah vor sich erspähte sie das spitze Gesicht der Mutter. Im schwachen Licht der Talglichter glänzten die schräg stehenden Smaragdaugen, das rote Haar loderte im Feuerschein. Sie musste träumen. Langsam ging die Mutter in die Hocke und legte ihr die Hand auf die Stirn. »Hast du Fieber?«
»Nein!« Carlotta schüttelte sie ab und sprang auf. »Mir geht es blendend. Nur die Hitze hier drinnen bringt mich zum Glühen. Ich muss einfach mal an die Kälte. Den Winterfrost auf den Wangen zu spüren, wird mir guttun.«
»Das ist eine hervorragende Idee. Ich passe solange hier auf. Gib allerdings gut auf dich acht. Schon jetzt ist Adelaide in der Apotheke sehr beschäftigt, um Tropfen und Aufgüsse herzurichten. Noch eine Kranke mit Husten und Fieber brauchen wir nicht.« Abermals tätschelte sie ihr die Wange.
»Lass, bitte.« Jäh entzog sich Carlotta ihrer Hand. »Warst du die ganze Zeit drüben bei Tante Adelaide? Oder bist du auch einmal unten in der Stadt bei Hartung gewesen?«
»Falls du wissen willst, ob ich die Nachricht an unser Kontor geschickt habe, kann ich dich beruhigen«, erwiderte die Mutter. »Alles ist erledigt, wie wir es besprochen haben. Gestern früh schon habe ich sie dem Boten mitgegeben. Spätestens heute Abend sollte sie also in der Langgasse eintreffen. Hedwig wird dann Bescheid wissen, dass wir in Sicherheit sind und eine Zeitlang hierbleiben.«
»Dein Wort in Gottes Ohr«, murmelte sie und spürte, wie ihr von neuem schwindelte. Sie musste dringend an die frische Luft. »Bis nachher«, murmelte sie und schlüpfte aus der Tür.
Die Helligkeit im Flur brannte ihr in den Augen. Sie blinzelte, taumelte, ohne viel zu erkennen, die ersten Schritte Richtung Eingangshalle, von wo noch immer Stimmen herüberwehten. Eine Novizin kam ihr entgegen, bot ihr hilfreich den Arm. Zwei weitere Nonnen wollten ihr ebenfalls beispringen. Dankend lehnte sie die Angebote ab, rieb sich die Augen. Unsicher drehte sie sich um die eigene Achse, stolperte, taumelte abermals. Haltsuchend ruderte sie mit den Armen und prallte unverhofft gegen jemanden. Sie brauchte den Kopf nicht zu wenden. Allein der Geruch verriet ihr, wer vor ihr stand. Ihre geheimsten Wünsche waren in Erfüllung gegangen! Freudig ließ sie sich in Christophs Arme sinken.
»Carlotta!« Liebevoll drückte er sie an sich, hauchte ihr einen Kuss aufs rotblonde Haar und fragte mit belegter Stimme: »Kannst du mir jemals verzeihen?«
»Dir verzeihen?«, wisperte sie leise. »Alles, was zählt, ist, dass wir wieder zusammen sind.«
Eng presste sie sich an seinen Körper, sog den herrlichen Duft nach Schnee, Tabak und Kaffee ein, der ihn umwehte.
»Jetzt wird alles wieder gut, Liebste. Schließlich haben wir beide uns endlich wieder.«
Sie verharrten eng umschlungen, vergaßen Raum und Zeit. Erst das mehrmalige Räuspern von Caspar Pantzer schreckte sie auf.
»Verzeiht, aber es ist hier wohl nicht der rechte Ort, um …«, setzte der Löbenichter Apotheker an.
»Entschuldige«, besann sich
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