Das Bernsteinerbe
und ihrer Tochter hat der zweite Zusammenbruch des Medicus binnen weniger Wochen gewiss einen gehörigen Schrecken eingejagt. Deshalb werden sie mir kaum ausführlich Mitteilung über die letzten Tage geben können. Ist der gute Doktor überhaupt wieder bei Bewusstsein?«
»Einen gehörigen Schrecken haben wir alle davongetragen!« Bitter lachte Marthe auf. »Wisst Ihr eigentlich, wo es den verehrten Herrn Stadtphysicus dieses Mal so arg erwischt hat?« Sie sah sie angriffslustig an. »Drüben in der Langgasse, in der Diele Eures Hauses ist es gewesen. Wenn das kein Zeichen ist!«
»Da mögt Ihr recht haben«, erwiderte Carlotta und war sich sicher, dass sie das Zeichen anders verstand als die Wirtschafterin. Ausgiebig wärmte sie sich die Hände über dem lodernden Kaminfeuer. Wenn sie den Physicus gleich untersuchen wollte, sollte sie das nicht mit eisigen Fingern tun.
»Ihr seid eine sehr besonnene Ärztin«, entfuhr es der Wirtschafterin überraschend. Offenbar hatte sie gerade den Sinn von Carlottas Tun durchschaut. Carlotta lächelte wieder.
»Ihr wisst, was ich bislang von Euch gehalten habe«, fuhr Marthe fort. »Dem guten Doktor geht es sehr schlecht. Doch vielleicht seid Ihr jetzt die Einzige, die ihm helfen kann. Doktor Lange ist es bislang jedenfalls nicht gelungen. Dabei hockt er seit Montagabend bei ihm, streicht Salben auf, verabreicht Tropfen, hat gar zweimal schon einen Aderlass angeordnet.«
»Was?«
»Ich weiß«, winkte Marthe ab, »das habt Ihr beim letzten Mal erfolgreich verhindert. Selbst mir, die ich keine Ahnung von derlei Dingen habe, kommt es unglücklich vor. Der gute Doktor war vorher schon kaum mehr bei Kräften. Hinterher aber war es noch schlimmer. Seine Durchlaucht, der Kurfürst, hat bereits angeboten, einen Pfarrer zu schicken. Noch weigert sich die verehrte Keplerin. Sie hat Angst, der redet gleich von der Letzten Ölung.«
Sie hielt inne, biss auf den Lippen herum, suchte nach weiteren Worten. Auf einmal stand sie dicht vor Carlotta, legte ihr die knochige Hand auf den Arm und sah sie flehentlich an.
»Der junge Herr wird es nie und nimmer allein schaffen. Das wissen wir alle. Bitte, steht ihm bei, ganz gleich, was der Doktor früher über Euch und Eure Mutter gesagt hat.«
Die Alte war den Tränen nah. Bestürzt bemerkte Carlotta, wie stark sie zitterte. Tröstend drückte sie ihr die Hand.
»Ich tue mein Möglichstes. Aber zaubern kann ich genauso wenig wie alle anderen.«
Bei diesen Worten zuckte Marthe zusammen, mied Carlottas Blick. Wenigstens empfand sie ein schlechtes Gewissen, dachte die junge Wundärztin. Immerhin hatte sie als eine der Ersten gegen die Mutter und sie gewettert. Entschlossen griff sie nun nach ihrer Tasche und eilte in den zweiten Stock.
17
D ie Tür zum Schlafgemach des alten Kepler stand offen. Christoph musste sie vor Hast aufgestoßen, dann aber vergessen haben, sie zu schließen. Ein Schwall abgestandener Luft schlug Carlotta von drinnen entgegen. Auf leisen Sohlen trat sie ein. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals. Zwar deutete sie es als gutes Zeichen, dass es bei Christophs Auftauchen keinen empörten Aufschrei gegeben hatte. Trotzdem fürchtete sie, entrüstet hinausgeworfen zu werden, sobald sie jemand entdeckte.
Zu ihrer Überraschung empfing sie eisiges Schweigen. Niemand drehte sich zu ihr um. Wahrscheinlich waren alle mit der Betrachtung des Kranken beschäftigt. Sie beschloss, die Zeit zu nutzen, und ließ den Blick wandern. Gleich war ihr, als wäre die Zeit stehengeblieben. In dem schmalen Raum bot sich ihr dieselbe Szene wie bei ihrem ersten Besuch vor wenigen Wochen: Der kurfürstliche Leibarzt lag blass in seinem prunkvollen Bett, die Hände auf der Decke wie zum Gebet gefaltet, die Augenlider geschlossen. Seine Gemahlin saß auf einem Schemel zwischen Bett und Fensterfront. Auf einem kleinen Tisch stand ein Krug Bier. Der malzige Geruch erfüllte den Raum. In einem mehrarmigen Kandelaber flackerten halb abgebrannte Kerzen und spendeten trübes Licht. Christoph stand auf der anderen Längsseite des Bettes und sah mit sorgenzerfurchter Stirn auf den Vater herab. Das heftige Auf und Ab seiner breiten Brust verriet, dass er immer noch außer Atem war. Hanna, die zwanzigjährige Tochter, wachte am Fußende, jederzeit bereit, einen Auftrag auszuführen, und gleichzeitig streng darauf bedacht, alles rund um den kranken Vater im Blick zu behalten. Dank der einschläfernden Luft und der düsteren Stimmung meinte Carlotta, die
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