Das Bernsteinerbe
Anwesenden dämmerten längst ebenso besinnungslos vor sich hin wie der Patient.
»Gott zum Gruße«, sagte sie leise. Mit einem Ruck fuhr Christoph zu ihr herum, breitete die Arme weit aus, um sie willkommen zu heißen. »Endlich, Liebste!«
»Was will sie?«, knurrte seine Schwester unfreundlich und maß Carlotta mit einem abfälligen Blick. »Wir wollen sie nicht hier haben. Doktor Lange weiß, was zu tun ist.«
»Gut, dass Ihr kommen konntet«, erklärte dagegen die aschfahle Keplerin und erhob sich langsam von ihrem Platz. Ihre fleischigen Finger zupften unruhig am dunkelgrünen Samt ihres Kleides. Die weiße Haube auf dem farblosen Haar war verrutscht. Die grauen Augen waren weit aufgerissen. Carlotta bildete sich ein, darin einen schwachen Schimmer Hoffnung zu erspähen.
»Helft meinem Gemahl, bitte! Ihr habt das schon einmal getan. Ich bin mir sicher, er wird es Euch auf ewig danken. Mein Dank ist Euch bereits gewiss. Tut etwas, sonst ist es zu spät.«
Sie presste sich ein zerknülltes Spitzentuch vor den Mund und wimmerte leise. Dann streckte sie den Arm aus, schlang ihn Carlotta um die Schultern und drückte sie fest gegen ihren dicken Busen. Überrascht ließ Carlotta das über sich ergehen, sog den Lavendelduft ein, der die Keplerin umfing. Er überlagerte zaghaft den Schweißgeruch, der in ihrer dicken Kleidung hing. Als sie sie endlich losließ, fielen Carlotta die feinen Schweißperlen auf der Oberlippe auf, selbst die Ohrläppchen waren gerötet. Das rührte von der unerträglichen Hitze im Schlafgemach. Der große Kachelofen in der Ecke links neben der Tür glühte förmlich, so gut war er angefeuert. Carlotta sah fragend zu Christoph. Der zuckte hilflos mit den Schultern.
Neben dem Ofen war der Leibarzt Lange auf einem Stuhl in sich zusammengesunken. Das Kinn war ihm auf die Brust gekippt. Der hagere Mann mit dem üppigen weißen Haarschopf schlief tief und fest.
»Er hat gewollt, dass gut angeheizt wird«, erklärte Hanna, sobald sie begriff, was Carlotta störte. »Er hat gesagt, Vater friere. Also haben wir ihm heiße Steine ins Bett gelegt, ein zweites Federbett besorgt und das Feuer ordentlich geschürt.«
»Das war sicher fürs Erste das Richtige«, sagte Carlotta vorsichtig. »Inzwischen aber ist es wichtig, dass er frei atmen kann.«
Sie trat an eines der Fenster und öffnete es, stieß auch den Fensterladen vor den Scheiben weit auf. Sofort strömte ein Schwall eisiger Winterluft herein. Carlotta schauderte, atmete jedoch befreit mehrmals tief durch, bevor sie sich wieder in den Raum wandte. Reglos lag der alte Kepler in seinem Bett, auch Doktor Lange schlief ungeachtet der kühler werdenden Luft weiter. Mutter und Tochter Kepler schmiegten sich am Fußende des Bettes aneinander, Christoph sah sie abwartend an.
»Ich möchte ihn gern untersuchen.«
Bei ihren Worten meinte sie, ein leichtes Zucken auf dem Gesicht des alten Kepler zu entdecken.
»Allein, wenn es geht«, fügte sie hinzu.
Dieses Mal war das Zucken deutlicher, fast schon ein richtiges Zwinkern.
Zögernd gingen die Keplerin und ihre Tochter hinaus. Christoph weckte auch den weißhaarigen Lange behutsam auf und erklärte ihm flüsternd, was geschehen war.
»Oh!«, rief der Leibarzt des Fürsten Radziwill und fuhr hoch. »Das Fräulein Grohnert bei Eurem Vater? Wisst Ihr, was Ihr tut?«
»Ganz bestimmt«, erwiderte Christoph, woraufhin der Doktor ihn gründlich musterte.
»Ob das aber Eurem Vater recht ist?«
Als Christoph schweig, erklärte er mit bitterem Unterton: »Wo eine Wundärztin meint, Wunder vollbringen zu können, ist ein studierter Medicus, wie ich es bin, überflüssig. Das solltet Ihr bedenken, mein lieber Kepler! Behauptet hinterher nicht, ich hätte Euch nicht gewarnt!«
Er klopfte Christoph auf die Schulter, sah noch einmal auf seinen Patienten, dann auf das offene Fenster und zum Schluss auf Carlotta. »Wollen wir hoffen, dass hier alles mit rechten Dingen zugeht.«
Ohne weiteren Gruß stakste er auf steifen Beinen zur Tür hinaus. Als Christoph ihm folgen wollte, hielt Carlotta ihn zurück.
»Bitte bleib«, flüsterte sie. »Nicht dass es am Ende heißt, ich hätte deinen Vater verhext.«
Vom Bett erklang ein Stöhnen. Verwundert sahen sie einander an und wandten sich dann dem alten Kepler zu. Der ruhte in derselben Position wie eben. Sie beugte sich über ihn, horchte einen Moment auf seinen Atem. Der ging gleichmäßig. Prüfend legte sie ihm die Hand flach auf die Stirn. Im selben
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