Das Bernsteinerbe
Carlotta in die Zügel und wollte auch ihre Stute durch das Tor führen. Die beiden Wachhabenden aber kreuzten im selben Augenblick die Piken.
»Sie nicht!« Drohend hob der Dünnere die Hand. »Sie kann gern morgen wiederkommen. Dann erhalten auch die Gaukler und Narren Einlass zum Markt.«
Carlotta wurde die Kehle eng. Kaum wagte sie, zu Christoph zu sehen. Sein lautes Aufstöhnen war nicht zu überhören. Wenigstens hatte Hartung ihren Namen nicht erwähnt, sonst drohte ihr womöglich gar Arrest. Niemand konnte wissen, was Farenheid und Heydrich inzwischen über ihren angeblichen Verrat hatten verlauten lassen.
»Gut«, sagte sie leise und machte Anstalten, ihr Pferd zu wenden. »Besser ihr beide als keiner von uns.«
»Du bleibst!« Blitzschnell verstärkte Christoph den Griff um die Zügel und verkündete lauthals: »Entweder wir alle drei oder keiner. Schließlich braucht mein Vater dringend die Hilfe dieser Wundärztin. Gewiss könnt Ihr Euch ausmalen, was das heißt. Der Kurfürst wird toben, wenn er erfährt, dass die Rettung seines hochgeschätzten Leibarztes an Eurer Sturheit gescheitert ist.«
Wieder wechselten die Wachhabenden ratlose Blicke, hielten die Piken aber vorerst weiter gekreuzt. Siegfried Hartung erbarmte sich ihrer.
»Der junge Kepler hat recht, verehrte Herren. Falls des Kurfürsten Leibarzt stirbt, weil die angeforderte Hilfe dieser Wundärztin nicht rechtzeitig eingetroffen ist, wird es großen Ärger geben. Ob die Wundärztin heute Abend oder morgen früh durchs Tor reiten darf, wird also von entscheidender Bedeutung für Euer weiteres Befinden sein. Seht, noch ist es hell«, er deutete nach Westen. Ein silberner Streifen zog sich über den Horizont, teilte den abendlichen Winterhimmel. »Das Tor schließt doch erst bei Dunkelheit, nicht wahr?«
Ein letztes Mal tauschten die beiden Wachhabenden Blicke. Für einen quälend langen Moment blieb die Zeit stehen. Dann klirrte es. Der kleine Dicke zog seine Pike zurück, der Dünne tat es ihm zögernd nach.
»Danke!« Hartung lupfte den Hut, Christoph winkte nur und trieb seinen Schimmel an.
Im Kneiphof herrschte ruhige Abendstimmung, nur wenige Fuhrwerke und Karren zockelten noch über das Pflaster. Christoph schlug den Weg rechts in die Magistergasse und von dort über den Markt zur Schmiedebrücke in die Altstadt ein. Das ersparte Carlotta den Anblick ihres Elternhauses oben in der Langgasse, kurz vor der Krämerbrücke. Nahezu im Trab ritten sie bis zur Schmiedegasse. Die Pferde ließen sie zu Füßen des Beischlags stehen. Hartung erbot sich, sie wegzuführen. Christoph fand kaum Zeit, es ihm zu danken, sondern eilte bereits zur Haustür.
»Nun macht schon«, ermunterte der Kaufmann Carlotta. »Ihr wisst, es eilt. Schickt mir morgen Nachricht in den Grünen Baum. Ich warte dort und kümmere mich um den Rest.«
»Das ist sehr großzügig von Euch.« Sie lächelte und nahm ihre Wundarzttasche, um dem Geliebten ins Haus zu folgen. Der hatte bereits den großen Klopfer gegen die Tür fallen lassen. Sie strich ihm sanft über die Wange, doch er entzog sich ihr. Wie gern hätte sie ihn in die Arme genommen, ihm Mut zugesprochen. Schon öffnete Marthe die Tür.
»Junger Herr, Ihr? Dann kommt Ihr endlich zurück? Versöhnt Euch mit Eurem Vater«, flehte sie und rang die Hände in der Luft. »Sonst werdet Ihr niemals Frieden finden!«
Eindringlich sah sie ihn an. Christoph erwiderte nichts. Marthes zweiter Blick galt Carlotta. Der fiel erwartungsgemäß unfreundlicher aus. Bevor sie etwas sagen konnte, erklärte Christoph hastig: »Ich muss zu meinem Vater.«
Damit drückte er Marthe Hut und Mantel in die Hand und sprang die Treppe ins zweite Geschoss hinauf. Carlotta sah ihm nach, bis er aus ihrem Blickfeld entschwunden war. Nur widerstrebend ließ die Wirtschafterin sie eintreten. Langsam entledigte sie sich ihrer Heuke. Im Schein der hellen Kerzen, die in sämtlichen Leuchtern der Diele steckten, war die Missbilligung, die sich in Marthes Gesichtszügen widerspiegelte, nicht zu übersehen.
»Wie geht es dem verehrten Herrn Doktor?«, erkundigte Carlotta sich freundlich, stellte die Wundarzttasche ab und streifte die Handschuhe von den Fingern. »Vermutlich betreut der hochgeschätzte Physicus Lange, seines Zeichens Leibarzt des Fürsten Radziwill, den Patienten. Wisst Ihr, was er angeordnet hat?« Sie bemühte sich um ein Lächeln. »Ich frage mit Bedacht Euch«, erklärte sie der Alten geduldig, »denn der verehrten Frau Kepler
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