Das Bernsteinzimmer
…«
»Schon gut!« Zufrieden sah Wiesinger, daß der SS-Führer den roten Kreis, der also doch um Nußdorf gemalt war, durchstrich. Das hätten wir, dachte er. Was nun? »Kennen Sie Höhlen?«
»Genug.« Wiesinger machte eine weite Handbewegung. »Im Dachsteingebiet gibt's genug, drüben im Höllengebirge bestimmt auch, im Salzburgischen sind die Salzbergwerke. Wozu brauchen Sie eine Höhle?« – »Unwichtig.«
»Woll'n Sie was einlagern? Da gibt es doch schon ein Depot … in Alt-Aussee.« Der Kopf des SS-Führers schnellte hoch. »Was wissen Sie von Alt-Aussee?!« schnarrte er. Wiesinger hörte sofort die Warnung in der Stimme.
»Ich habe das irgendwo gehört …«
»Dann vergessen Sie sofort und gründlich, was Sie gehört haben, Herr Bürgermeister.« Der SS-Untersturmführer faltete seine Karte zusammen und steckte sie zurück in die lederne Tasche am Koppel. »Im Höllengebirge, sagen Sie? Danke. Wie sind dort die Straßenverhältnisse?«
»Straßen?« Wiesinger bezwang sich, nicht zu lächeln. »Um diese Jahreszeit? Da wünsche ich Ihnen viel Glück.«
Der SS-Führer wölbte die Unterlippe vor, warf einen Seitenblick auf den Gemeindeschreiber, sagte stramm: »Heil Hitler« und verließ das Büro. Hinter der Gardine beobachteten Wiesinger und der Sekretär die Abfahrt der SS-Kolonne.
»Die wollen was verstecken«, sagte der Gemeindeschreiber. »Karl, das hat was mit der ›Alpenfestung‹ zu tun! Die rechnen damit, daß hier der Endkampf stattfindet. So eine Scheiße!«
»Warten wir's ab.« Bürgermeister Wiesinger starrte auf die schneeglatte Straße. »Das ändert sich jetzt alles von Tag zu Tag …«
Am 3. Mai 1945 warteten, verschanzt an der zu Nußdorf gehörenden Ortschaft Zell, Einheiten der Wehrmacht und SS-Soldaten einer ungarischen Division auf den Vormarsch der Amerikaner. Die 3. und die 7. US-Armee rückte über Rosenheim, Salzburg, Braunau und Linz in Österreich ein. Es gab keinen großen Widerstand, die ›Alpenfestung‹ war ein Phantom.
Am 6. Mai 1945 um 12.30 Uhr erschienen die ersten Panzerkolonnen der 3. US-Armee in Nußdorf. Kampflos ergaben sich die deutschen Truppen in Zell. Der kleine, schöne Ort am Attersee atmete auf. Der Krieg war für sie vorbei, das Dorf war nicht zerstört, sogar die Neger waren freundlich und schenkten den Kindern Kekse, Fruchtstangen und Schokolade.
Ein schöner Maitag war's. In der Sonne leuchtete der See. Einige Fischerboote waren draußen und fingen Saiblinge und Renken. In den Vorgärten blühten Primeln, Tulpen und Stiefmütterchen. Vom Kirchturm läuteten die Glocken.
Es gab noch keinen Frieden, aber über Nußdorf lag er bereits.
Am 9. Mai 1945 um 00.01 Uhr war der Krieg zu Ende.
In einem gewendeten amerikanischen Offiziersmantel, deutschen Kommißstiefeln und einem viel zu weiten Anzug stand Michael Wachter am 10. Mai vor den Zinnentürmen am Eingang von Schloß Reinhardsbrunn. In einem Jeep hinter ihm, neben einem kaugummikauenden GI , saß Jana Petrowna. Ein dünnes, baumwollenes Kleid trug sie, darüber einen großen Schal wegen des Fahrtwindes. Das schwarze Haar hatte sie hochgesteckt und hielt es mit einem roten Band zusammen.
Wachter starrte auf das Schloß, drehte sich dann um und ging zum Jeep zurück. Er verzichtete darauf, das Gittertor zu öffnen und zum Eingang zu gehen.
Der amerikanische Ortskommandant hatte es ihm schon gesagt: Zwanzig große Kisten waren nicht im Schloß gewesen, als man es besetzte. Eine Unmenge Material und andere Dinge, aber zwanzig Kisten … nein!
»Hier hört es auf!« sagte er. Seine linke Schulter hing etwas herab, vor allem wenn er ging. »Niemand weiß etwas. Das Bernsteinzimmer ist verschwunden.«
»Wir finden es, Väterchen.« Jana beugte sich über ihn und streichelte seine Wange. Sie sprachen russisch, und der amerikanische Soldat am Steuer des Jeeps spuckte seinen zerkauten Gummi über die Windschutzscheibe. Man hatte gemeinsam gesiegt, aber man mochte sich nicht. »Sei nicht traurig. Wie Wölfe werden wir sein und die Fährte verfolgen.«
»Es gibt hundert verschiedene Spuren, Töchterchen.«
»Und eine ist die richtige. Warte, bis Nikolaj zu uns kommt. Väterchen, das Bernsteinzimmer wird bald wieder in Puschkin sein.«
Wachter nickte. »Laß uns daran glauben, Janaschka.« Er stieg in den Jeep und setzte sich auf den metallenen Rücksitz. »Zum erstenmal fällt mir das Glauben schwer –« Und zu dem GI sagte er: »Go on.«
Der Jeep ruckte an und fuhr die Schloßstraße
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