Das Bernsteinzimmer
sich nehmen, was sie wollten. Auch die Frauen … Junge, das waren noch Zeiten!« Er beugte sich über den Tisch vor und senkte seine Stimme zu einem Flüstern. »Ich habe gehört, daß wir in den nächsten Tagen den ganzen Reichtum wegbringen sollen. Vierhundert Tonnen Kunst … da fallen ein paar Pfund weniger nicht auf. Laß das mal Joe machen.«
Nach Eisenhowers Besuch wurde das Bergwerk zur Besichtigung für die amerikanischen Offiziere und die niedrigen Dienstgrade freigegeben. Mit der Sorglosigkeit und Unkompliziertheit der Amerikaner stöberten die Besucher zwischen den Kisten und Kartons, Koffern und Verschalungen herum, rissen Bretter heraus, schlitzten Kartons auf, wühlten zwischen den Ikonen und Gemälden, den Silbergeschirren und Steinskulpturen, den Exponaten der ostasiatischen Sammlungen und ägyptischen Ausgrabungen. Nie ist darüber gesprochen worden und nie hat man gegen irgendwelche Personen ermittelt, aber als am 14. April auf Befehl von General Patton die erste schwere Truck-Kolonne mit den Kunstschätzen des Bergwerks Kaiseroda II/III von Merkers beladen wurde, waren eine Menge Kisten aufgebrochen und unersetzliche Kunstwerke einfach verschwunden. Es war nicht anders als bei dem anderen ungeheueren Kunstfund im Bergwerk Grasleben, das am 12. April von den Amerikanern erobert und später am 1. Juni 1945 an die Engländer übergeben wurde. In einem Top-Secret-Bericht der Engländer hieß es: »In allen aufgesuchten Lagerstätten sind verschiedene Kisten von den Investigators des CIC zu Anfang der Besetzung aufgebrochen und mit halb herausgezerrtem Inhalt zurückgelassen worden. In Grasleben waren von den 6.800 Kisten mehr als die Hälfte offen, als sie später herausgeholt wurden …«
Am 14. April fuhr der erste Truck-Konvoi aus Merkers weg in Richtung Frankfurt. Patton hatte sein Versprechen gehalten: Der Transport war gesichert wie noch nie ein Konvoi vorher. Die 29 riesigen Lastwagen waren bewacht von fünf Zügen Infanterie, zehn mobilen Flakgeschützen und zwei MG-Trupps. Über der Kolonne kreisten drei Beobachtungsflugzeuge, und zwei Mustang-Bomber überflogen immer wieder die Trucks, um einzugreifen, wenn der ›Werwolf‹, die von den Amerikanern so gefürchtete deutsche Partisanenbewegung, den Transport überfallen sollte.
Die letzten drei Wagen wurden von Larry, Joe und einem farbigen GI gefahren, der, wie viele Schwarze, den biblischen Vornamen Noah trug. Es war eine langweilige Fahrt durch das zerstörte deutsche Land, durch Felder und Wälder und Dörfer, durch Städte, in deren Fenstern noch die weißen Fahnen hingen und wo lange Menschenschlangen an den Lebensmittelausgaben standen. Um Schokolade bettelnde Kinder rannten neben den Lastwagen her, und abends, bei der Rast an Stadträndern vor allem, strichen deutsche Mädchen um die Kolonne herum, um sich für Butter, Zucker, Mehl, gebratene Hähnchen oder eine Stange Zigaretten anzubieten. Zwar hieß Eisenhowers Befehl: No fraternization – aber wer konnte den deutschen ›Fräuleins‹ widerstehen? Mary, June und Anny waren weit weg, tausend Meilen übern großen Teich …
Larry und Joe waren mit sich zufrieden. Unter den Sitzen ihrer Trucks und den stählernen Ersatzteilkisten an den Seiten lagen bei Larry sieben Ikonen, vier alte, aus purem Silber getriebene, einzigartige russische Leuchter und ein aus dem Rahmen geschnittenes, zusammengerolltes Gemälde, das mit van Dyck signiert war. Joe transportierte in seinem Wagen zwei altrussische dreiflügelige Altar-Ikonen, zwei assyrische Steinmasken, ein Gemälde von Caravaggio, ein Gemälde von Tizian, einen kleinen Koffer voll altägyptischem Goldschmuck und die von Alexander von Humboldt dem Berliner Museum für Völkerkunde geschenkte, in der gesamten Kunstwelt berühmte Serpentinscheibe mit dem Sonnengott der Inkas. Noah, der den dritten Wagen am Ende fuhr, hatte nichts in den Kästen oder unter dem Sitz. Ihn interessierte nicht, was er da durch die Gegend fuhr … für ihn war wichtig, daß ein deutsches ›Fräulein‹, ein wonderful weißes Mädchen, nur eine Stange Chesterfield oder ein halbes Pfund Butter zusätzlich einem halben Hähnchen kostete.
Dann, sie hatten ihr Nachtquartier am Stadtrand von Alsfeld aufgeschlagen, geschah das, was niemand begreifen konnte, was nie geklärt wurde, was einfach unglaublich war und trotzdem eine Tatsache: Von den 29 scharf bewachten Trucks fehlten am nächsten Morgen drei! Sofort schwärmten Suchtrupps aus, durchkämmten die ganze
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