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Das Bett

Titel: Das Bett Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Mosebach
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denn möglicherweise galt jedes Gedicht einer anderen Frau.
    |175| »Wer ist ›Du‹?« flüsterte ich meiner Mutter zu, die auf diese Frage nur gewartet hatte, um ihre Beherrschung endgültig zu verlieren. Sie hielt sich den Mund zu und beugte sich hinter den breiten Rücken ihres Vordermannes.
    Ich glaubte zunächst, daß sie weine, weil ihre Schultern wie unter einem unhörbaren Schluchzen zuckten, und erschrak, weil ich ihre Tränen fürchtete. Tatsächlich waren ihre Augen feucht, aber sie wagte mir nicht zu antworten, weil sie ihre Stimme nicht in der Gewalt hatte und fürchtete, zu laut zu sprechen, wenn sie nur den Mund aufmachte. Plötzlich war mir klar, daß meine Mutter ein Lachen unterdrückte – gerade rezitierte der Monsignore: »Du bist wie eine Feder leicht« –, aber ich sah nun vor mir, in welcher Lage und zu welcher Person er diesen Vers zum erstenmal gesprochen hatte.
    Zunächst war er selbst der Leichte, der Federleichte, trotz seines massigen Körpers, den er auf einem kleinen, schwarzen Fahrrad balancierte, das ihn geräuschlos die Straße entlangtrug. Ich sah ihn mit den Augen der Wartenden aus einem Fenster, dessen Läden verschlossen waren, ohne die Wartende selbst zu sehen, ich war zunächst noch mit ihr identisch, bis sich die Tür öffnete, der Monsignore hereinkommen würde und sie ihm antworten mußte.
    Das Zimmer, in dem die Wartende und ich standen, hatte nur wenige Möbel, eine gestreifte Tapete, aber von welcher Farbe? Durch das Dunkel, das in dem Zimmer im Gegensatz zu der brennenden Mittagssonne draußen auf der Straße herrschte, war alles, was ich sah, nur durch die Intensität der Grautöne unterschieden. Der Schatten der Frau, in der ich mich verbarg, zeigte ihre schlanke Figur, ihren eng um die Hüften sitzenden Rock und ihre Frisur aus kurzen Löckchen. Der Schattenleib reichte bis zur Tür, und sein Kopf mußte der erste Fleck im Zimmer sein, auf den der Monsignore trat, wenn er zur Tür hereinkam. Gemäß seiner Leichtigkeit, die er schon auf dem kleinen Fahrrad bewiesen hatte, machte der Priester auch auf der Treppe keinerlei Geräusch, so daß wir nicht wußten, wann er uns erscheinen würde, und deshalb war ich über die Selbstverständlichkeit erstaunt, |176| mit der ich mich im gleichen Augenblick, als sich die Tür öffnete und der Monsignore seinen schwarzen Stiefel auf den Schattenkopf setzte, aus der Wartenden löste und quer durch das Zimmer hinter den eisernen Ofenschirm flog, ohne daß der Eingetretene es bemerkte. Erst hinter dem Ofenschirm sah ich, wer die Frau war, aus deren Augen ich bis dahin geschaut hatte und die sich nun, von meiner Last befreit, mit dem Monsignore treffen sollte. Frau Oppenheimer blickte aus ihren blauen Augen dem Monsignore furchtlos ins Gesicht. Die Tür war auf einmal wieder zu. Der Monsignore ging zu dem Eisenbett mitten im Zimmer, setzte sich und schwieg. Schließlich begann Frau Oppenheimer leise zu sprechen: »Es war schwierig für mich zu kommen, überall werde ich beobachtet, keiner kann mich in Frieden lassen. Ich mußte erst meinen kleinen Sohn aus der Schule abholen, wir fahren heute noch aufs Land, dort muß ich Tennis spielen, bis das Wochenende zu Ende ist. Ich frage mich nur eins, warum muß es heute sein und warum muß es hier sein? Halten Sie dies Zimmer für sicher? Ich konnte durch die Ritzen in den Fensterläden die ganze Straße übersehen, aber man kann auch von der Straße aus dies Hotel beobachten. Es gibt keinen zweiten Ausgang.«
    Ihr Gesicht wurde dunkler, der Monsignore hob seinen Kopf, ich konnte sein Gesicht nicht sehen, er begann mit fast flüsterndem Falsett zu singen: »Dies Zimmer ist sicher. Du spielst mit den Bällen. Ich frage warum. Das Fenster, die Straße, der Blick, das Tor. Denn du bist da.« Frau Oppenheimer war mit dieser Antwort zufrieden und bewegte sich nicht, sondern blieb als Silhouette vor dem Fenster stehen. Dann sagte sie: »Glauben Sie, daß ich die einzige bin, die Sie auf dem Fahrrad gesehen hat, und die einzige, die weiß, daß Sie nun hier sind?« Wußte sie nicht, daß ich hinter dem Ofenschirm stand und vorher noch aus ihren Augen gesehen hatte? Oder sprach sie von einer anderen Person, deren Nachstellungen sie und der Priester fürchteten? Dem Monsignore gefiel es, auf diese Fragen wieder wahllos aus seinen Gedichten zu zitieren: »Du bist die einzige«, sang er wie eben, »denn du hast mich gehört. Du bist einzig, denn du hast mich nicht gesehen. Dich glaub ich

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