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Das Bildnis der Novizin

Titel: Das Bildnis der Novizin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laurie Albanese Laura Morowitz Gertrud Wittich
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hörte ihren Schrei, und darüber war sie froh. Es war erst Mai. Das Kind durfte noch nicht kommen.
    Zitternd schob sie die sorgfältig zugeschnittenen Stoffstücke beiseite und ließ sich schwer auf einen Stuhl sinken. Sie beugte sich vor und hob ihre Röcke. Kein Wasser, kein Blut. Keuchend hielt sich Lucrezia an der Tischkante fest.
    »Noch nicht. Bitte, lieber Gott, jetzt noch nicht«, betete sie, nach Luft ringend.
    Ihr Bauch zog sich zusammen, der Schmerz konzentrierte sich auf jene Stelle, an der ihr Schwangerschaftsgürtel saß. Lucrezia griff nach dem Gürtel, den sie aus weichem Leder selbst angefertigt hatte, und lockerte die Schnalle. Dann drückte sie die Augen zu und betete laut zur Heiligen Jungfrau. Sie schrie auf, als sie von einer neuerlichen Wehe erfasst wurde.
    »Heilige Maria, Muttergottes, gib mir Kraft!«, stöhnte sie und streckte die Hand nach dem blauen Seidenstoff aus, den sie beiseite gelegt hatte, um sich ein besonders schönes Kleid daraus zu schneidern. Aber jetzt biss sie hinein, um nicht noch einmal aufzuschreien. Der Geschmack des Stoffes erinnerte sie an ihren Vater. Daran klammerte sie sich, als sie nun von einer neuerlichen Schmerzwelle heimgesucht wurde. Lucrezia ächzte. Sie wand sich, knirschte mit den Zähnen. Als sie schon glaubte, es nicht länger ertragen zu können, hörte der Schmerz plötzlich auf. Sie hob den Kopf und blinzelte ihre Tränen weg.
    Draußen schien die Sonne, tanzte auf der Straße, die zum Domplatz führte. Die Stoffstücke für die Säuglingsgewänder, Nadel, Faden und Stickreif lagen auf dem Boden verstreut; sie hatte sie während der Krämpfe unabsichtlich vom Tisch gefegt.
    Lucrezia wischte sich mit einem Tuch den Schweiß von der Stirn und trank einen Schluck Wasser aus dem Eimer, den sie in der Zisterne gefüllt hatte. Neben dem Kamin stand der Korb mit den Delikatessen, die Teresa de Valenti diese Woche geschickt hatte, dazu einen kurzen Brief, in dem sie versprach, eine Hebamme zu schicken, wenn Lucrezia so weit sei. Aber die Signora hatte weder geschrieben, wen sie schicken würde, noch, wie diese Person benachrichtigt werden sollte. Jetzt bereute Lucrezia, nicht gleich nachgefragt zu haben. All ihre inbrünstigen Gebete, all die Kräutertees, die sie getrunken hatte, um sich auf die Geburt vorzubereiten, die fertigen und halbfertigen Säuglingsgewänder – und doch war Lucrezia jetzt, in diesem kritischen Moment, allein und vollkommen unvorbereitet. Und die Schmerzen waren unglaublich stark. So stark, dass sie fürchtete, ihre Zeit wäre gekommen.
    Als sie wieder stehen konnte, suchte Lucrezia ihren Mantel, ihren Rosenkranz und das weiche, fast fertige gelbe Hemd zusammen, das sie bei der Geburt tragen wollte. Sie machte Ordnung, so gut es ging, legte alles, was sie brauchte, aufs Bett und steckte den Rosenkranz zu ihrem Medaillon in die Tasche. Dann machte sie sich bereit, zum Dom zu gehen, um Fra Filippo zu bitten, Signora Teresa zu benachrichtigen. Sie war schon fast an der Tür, als sie von einer neuen Wehe erwischt wurde. Sie fiel auf die Knie. Es dauerte mehrere Minuten, bis der Schmerz nachließ, und noch länger, bis sie wieder denken konnte.
    Sie war vor einer großen Staffelei mit dem Medici-Altarbild auf die Knie gesunken. Zuerst konnte sie es nur verschwommen sehen, doch als ihr Blick wieder klar war, richtete er sich wie von selbst auf das große Zentralpaneel. Ihr eigenes Gesicht bildete den Mittelpunkt, doch dort schaute Lucrezia nicht hin. Sie vermied es, die Madonna anzusehen, es war ihr unangenehm, sich selbst im Gesicht der Muttergottes zu erkennen. Lieber schaute sie die Bäume und die Blumen an, die Fra Filippo mit so viel Liebe zum Detail gemalt hatte. Sie freute sich über seine Fortschritte: über das leuchtende Blau des Madonnengewands, den superben Faltenwurf, den raffinierten Lichteinfall, die durchscheinenden grünen Blätter der Bäume, die über dem Haupt der knienden Madonna schwebende Taube.
    Lucrezias Blick wanderte zu den Seitenpaneelen, die am Boden vor der Staffelei lehnten. Zusammen mit dem Mittelstück bildeten sie die drei Teile, aus denen das Triptychon für König Alfonso bestehen würde. Die Seitenpaneele waren fertig und sie schaute sie zum ersten Mal genauer an: die schimmernde Rüstung des heiligen Michael, die feine braune Kutte des heiligen Antonius, die von derselben Farbe war wie frischer, fruchtbarer Ackerboden.
    »Bitte«, flüsterte sie, an den starken, gütigen Abt Antonius gewandt, der

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