Das Bildnis der Novizin
einmal gesehen hatte.
»Seid Ihr es?«, flüsterte sie Lucrezia zu. »Seid Ihr es, Heilige Muttergottes? Seid Ihr gekommen, um mich zu holen?«
»Ich bin Schwester Lucrezia«, sagte die Novizin. Mit einem Mal erfüllte sie eine seltsame, über ihr Alter hinausgehende Weisheit. »Fürchtet Euch nicht. Dass ich aussehe wie die Madonna auf dem Bild, ist nur ein Zufall. Ich bin nicht die Muttergottes, die gekommen ist, um Euch zu holen. Ihr habt einen starken, gesunden Erben. Er befindet sich in der Obhut Eurer Diener und wird in diesem Moment gewaschen und dann der Amme übergeben.«
Signora Teresa, die schon von klein auf besonders gern zur Muttergottes gebetet hatte, hörte Lucrezias Worte und beruhigte sich. Alles war gut.
Mit einem tiefen Seufzer entspannte sie sich. Den Trank aus Kamille und Eisenkraut, den Schwester Pureza ihr an die Lippen hielt, schluckte sie widerstandslos. Wenig später war das Fieber gesunken und Signora Teresa schlief friedlich, in zwei warme Decken gehüllt, ein, während ihre weiblichen Verwandten zur Feier der Geburt eine Platte mit Orangen und Zuckerwerk anrichteten. Signore Ottavio de Valenti trank ein gutes Glas Port auf seinen prächtigen, neugeborenen Sohn, Ascanio di Ottavio de Valenti. Und draußen im Gang blieb Schwester Pureza einen Moment lang allein vor Fra Filippos Madonna mit Kind stehen.
»Die Signora lag schon im Sterben«, bemerkte die jüngere Hebamme, die neben Schwester Pureza trat. »Eure Novizin besitzt den Segen der Jungfrau, gute Schwester.«
12. Kapitel
Am Freitag der dreizehnten Woche nach Pfingsten, im Jahre des Herrn 1456
D er untergehende Mond schien der Kutsche zu folgen, die Schwester Pureza und Lucrezia zum Kloster zurückbrachte. Die Frauen waren vollkommen erschöpft, und das Schaukeln des Gefährts schien sie ebenso in den Schlaf wiegen zu wollen, wie das Schaukeln der Wiege den neugeborenen Sohn in diesem Moment unter dem Ziegeldach des Palazzos seines Vaters in den Schlaf wiegte.
Schwester Pureza, die ihre Augen geschlossen hatte, dachte an die Signora, die sich auf so wundersame Weise erholt hatte, deren Fieber so rasch gesunken, die so ruhig und friedlich eingeschlafen war. Nie waren die Kräuter aus ihrem Garten so wirksam gewesen wie in dieser Nacht. Als es schon danach aussah, als würde die Mutter wie so viele andere in ihrer Situation in ein Delirium hinübergleiten, aus dem es kein Erwachen mehr gab, hatte sie ins schöne Antlitz von Lucrezia geblickt, und ihre Hysterie war verpufft, ihr Blut hatte sich abgekühlt, das Fieber war gesunken.
Die Dienstboten hatten das natürlich mitbekommen; und auch die Schwägerin von Signora Teresa war Zeugin gewesen. Ein Wunder hatten sie es genannt, hatten es einander zugeflüstert, bis sich Lucrezia selbst umdrehte und sagte: »Hier gibt es kein Wunder, bitte hört auf, so etwas zu sagen.« Natürlich hatten alle genickt, aber sie hatten vor dem Verlassen der Kammer das Kreuzzeichen gemacht. Und als die Nonnen ihre Sachen zusammengepackt und sich zur Rückreise fertiggemacht hatten, war Signore Ottavio persönlich auf sie zugekommen, hatte Schwester Purezas alte, runzelige Hand in die seine genommen und gesagt: »Wenn ich irgendetwas für euch tun kann, egal was, ein Wort genügt.«
Schwester Pureza stieß unwillkürlich einen Seufzer aus. Lucrezia sah, dass die Alte sich regte, und zupfte sie am Ärmel.
»Es tut mir so leid, Schwester Pureza«, flüsterte sie. »Es tut mir leid. Ich weiß nicht, was ich zu diesem Bild sagen soll. Ich hatte keine Ahnung, ich schwöre es. Ich habe es heute Abend zum ersten Mal gesehen.«
Schwester Pureza wandte den Kopf und schaute Lucrezia an. Sie war sehr schläfrig, und es war sehr dunkel in der geschlossenen Kutsche, aber Lucrezias Schönheit war dennoch unübersehbar.
»Eine solch überwältigende Schönheit zu besitzen ist sicherlich nicht leicht«, sagte Schwester Pureza sanft.
Lucrezia schwieg. Zu Hause hatten sie nur einen Spiegel gehabt, ein Oval aus poliertem Silber, und Signora Buti hatte ihren Töchtern nur an Samstagen, nach dem wöchentlichen Bad zur Vorbereitung auf den Tag des Herrn, erlaubt, in den Spiegel zu schauen. Andere junge florentinische Damen aus gutem Hause drehten sich täglich vor dem Spiegel, das wusste Lucrezia, ja manche setzten sich extra in die Sonne, um dadurch ihr Haar zu blondieren. Die Buti-Schwestern waren jedoch nie zu solchen Eitelkeiten ermutigt worden, ja durften nicht einmal zu so harmlosen Tricks greifen, wie sich
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