Das Bildnis der Novizin
Mädchens hörte, streckte den Kopf aus ihrer Zellentür. Sie hatte bereits den Schleier abgenommen und das Haar fiel ihr in zwei dicken grauen Zöpfen über den Rücken. Sie streckte die Hand aus und packte Lucrezia, als diese vorbeilaufen wollte.
»Was ist los?« Sie zog Lucrezia in ihre Zelle.
»Der Generalabt«, schluchzte Lucrezia. Sie schob den Ärmel ihrer Tracht zurück und zeigte Schwester Pureza die Abdrücke, die seine zornigen Finger auf ihrem weißen Arm hinterlassen hatten.
Schwester Pureza wartete das dritte Krähen des Hahns ab, dann machte sie sich im heraufdämmernden Morgen auf den Weg über den Klosterhof zur Schlafzelle von Mutter Bartolommea.
Die alte Nonne machte sich nichts vor. Sie wusste, dass Männer Frauen Gewalt antaten. So war es draußen im weltlichen Leben. Aber innerhalb von Klostermauern sollte eine Frau, selbst wenn sie noch so schön war, nicht derartigen Übergriffen ausgesetzt sein.
In der Annahme, die Mutter Oberin würde noch schlafen, klopfte Schwester Pureza nur kurz an die Tür ihrer Zelle und öffnete dann sogleich. Aber die Äbtissin war bereits wach. Sie kniete betend vor ihrer Schlafpritsche, vor sich eine aufgeschlagene Bibel. Eine einzelne Kerze tauchte die Zelle in ein schwaches Licht. Mutter Bartolommea schrak zusammen und rappelte sich hoch. Sie trug einen Gürtel, einen grün-goldenen Gürtel von solcher Pracht, dass er selbst im spärlichen Licht der Kerze funkelte und strahlte.
»Schwester!«, rief die Äbtissin erzürnt aus. Sie hob abwehrend die Hände, als wollte sie die Mitschwester am Eintreten hindern. »Ich bin mitten im Gebet. Du störst mich. Bitte geh auf der Stelle.«
Doch Schwester Pureza trat einen Schritt näher, die Augen erstaunt auf den Gürtel geheftet.
»Ist das der Heilige Gürtel?«, fragte sie und sah sich schon dadurch bestätigt, dass die Mutter Oberin versuchte, besagten Gürtel mit den Armen zu verdecken.
Die Äbtissin schüttelte heftig den Kopf.
»Das ist der heilige Gürtel der Jungfrau Maria, nicht wahr?« Schwester Pureza wusste, dass er in einem abgeschlossenen Seitenaltar im Stefansdom aufbewahrt wurde und auf päpstliche Anordnung nicht von dort entfernt werden durfte. »Der Heilige Gürtel, hier in deiner Zelle. Wie ist das möglich?«
Die Äbtissin, die ihren Schleier noch nicht angelegt hatte, strich sich eine dicke graue Locke aus der Stirn. Sie schoss der Mitschwester einen zornigen Blick zu, um diese einzuschüchtern.
»Das geht dich nichts an, Schwester Pureza. Wie ich dir schon oft gesagt habe: Du musst nicht alles wissen, was im Kloster vorgeht. Ich habe Pläne. Pläne, die dem Kloster viel Geld und den Segen der Muttergottes einbringen werden.«
»Pläne?«, wiederholte Schwester Pureza, keineswegs eingeschüchtert. Sie war alt, aber nicht schwach. »Pläne in Bezug auf den heiligen Gürtel der Jungfrau?«
»Und mich selbst«, antwortete die Äbtissin impulsiv.
»Und dich selbst.« Schwester Pureza roch den Braten. »Und die Novizinnen, nehme ich an? Du setzt ihre Sicherheit und ihre Tugend aufs Spiel, für diese ›Pläne‹? Ist der Gürtel vielleicht deshalb jetzt in deinem Besitz? Die kostbarste Reliquie der Stadt?«
»Das reicht, Schwester Pureza.« Die Äbtissin trat bedrohlich auf die Hebamme zu. »Kein Wort mehr. Geh jetzt. Ich muss den Heiligen Gürtel wieder sicher verwahren. Bei Sonnenaufgang wird er fort sein. Und du darfst niemandem verraten, dass er hier war. Jede Unschicklichkeit in Verbindung mit dem Gürtel könnte den Untergang unseres kleinen Klosters bedeuten.«
»Meine gute Mutter Oberin.« Schwester Pureza musterte die Äbtissin vom Kopf bis zu den nackten Füßen. Sie hatte sich ihr Habit nur hastig um die Schultern gelegt. »Die Heiligkeit dieses Ortes ist bereits verletzt worden. Deshalb bin ich ja hier.«
»Ich will kein Wort davon hören«, wehrte die Äbtissin störrisch ab. »Du wirst in letzter Zeit immer seltsamer.«
»Du musst mir aber zuhören!« Die alte Frau zitterte vor Zorn. »Der Generalabt hat keinen Respekt vor der Heiligkeit dieser Mauern. Er hat sich der Novizin Lucrezia heute Nacht unsittlich genähert und sie bedrängt, mit unaussprechlichen Absichten!«
Die Äbtissin war einen Moment lang wie gelähmt. Sie trug den Heiligen Gürtel und Blasphemien wurden in ihrer Zelle geäußert! Sie kehrte Schwester Pureza den Rücken zu.
»Du musst gehen«, sagte sie bestimmt und begann an der Schnalle des Gürtels zu nesteln. »Sei nicht töricht. Überlege doch mal:
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