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Das blaue Buch - Roman

Das blaue Buch - Roman

Titel: Das blaue Buch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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anbieten, die mir nicht wirklich helfen kann und die ich nicht ertragen kann, weil mir nicht mehr zu helfen ist, ich mich aber nur ungern daran erinnern lasse.
    Ich laufe nicht bloß weg, ich suche.
    Ich suche ihn.
    Idiotin.
    Idiotin.
    Idiotin.
    Immer das gleiche.
    Und jedes Fenster, an dem sie vorüberwischt, ist von monochromem Wüten erfüllt, und die Beleuchtung versucht, golden zu sein, wirkt aber traurig, und vom Stockwerk unter ihr tönt Musik herauf – lachhaft süße Musik – und Elizabeth ist zu derangiert, kämpft mit zu großen Gefühlen, um unbemerkt, unkommentiert zu bleiben, aber das spielt keine Rolle, denn sie sucht und findet nicht – das ist ihre Demütigung, dass sie eindeutig auf der Suche ist, einer Sache nachjagt, die sie nicht bekommen kann – das ist ihre angemessene Strafe, ihre Scham.
    Für die Sünde oder fürs Abweisen der Sünde.
    Für ihn oder dafür, ihn abzuweisen.
    Und nirgendwo eine Spur von ihm.
    Er hat keine hinterlassen.
    Vorhersehbar.
    Er verschwindet.
    Wieder ein Spiel.
    Oder das Ende der Spiele.
    Ich bin nicht mit ihm in seine Kabine gegangen, also bleibt er ohne mich dort.
    Er ist irgendwo ohne mich.
    Vorhersehbar.
    Und Vorhersagen liebt er.
    Jeden Tag steckt er sich einen Zettel in die Tasche. Er schreibt das Datum des Tages darauf, und dazu: Ich sage voraus, dass Arthur P. Lockwood an diesem Tag sterben wird. Mit freundlichem Gruß, Arthur P. Lockwood.
    So macht er weiter, bis er einmal recht hat.
    Für alle Gelegenheiten hat er ein Spiel.
    Sogar für die, die er nie erleben wird.
    Er hat mir den Zettel einmal gezeigt und erklärt. Aber er hat nicht vorhergesehen, dass ich ihm eine runterhauen würde, als ich ihn gelesen hatte.
    Das einzige Mal, dass ich ihn geschlagen habe – schrecklich, ihn zu schlagen – das sollte man nie. Das war der Schock. Dass Arthur vor mir stand und seinen Tod vorhersagte.
    Sie geht stockend eine weitere steile Treppe hinunter, dann neben der Tanzfläche auf und ab – ungefähr ein Dutzend Paare beugen und biegen sich in Klaviermusik, passen sich dem Buckeln und Gleiten des Schiffes an, das ihnen neue Schritte abverlangt, sie antreibt. Ihre Körper erinnern sich an Drehungen um Kehren und Takte, die sie vor Jahrzehnten gelernt haben, sie füllen die Geister ihrer früheren lächelnden Bewegungen auf Hochzeiten, Abendgesellschaften, Partys, Geburtstagen, Jubiläumsfeiern.
    Nicht auf Beerdigungen – ist nicht üblich.
    Die Frauen wetteifern würdevoll, ihre Kleidung macht das Beste aus dem, was sie nicht mehr ganz haben, und sie sind hartnäckig, energisch – ein Echo dessen, was sie früher waren: mit stärkeren Knochen und anderer Haut. Sie tanzen meist miteinander, denn es gibt nicht genug Männer.
    Die Männer sterben schnell, früher, verlassen uns. Wir sind haltbarer gemacht und bleiben daher zurück.
    Außer Bunny. Sie wird vor Francis sterben. Es war nicht bloß das Schwarz ihres Pullovers, irgendetwas höhlt sie leise von innen her aus, und sie sind hier auf ihrer letzten Kreuzfahrt, die große Geste – sie machen etwas für ihn, was er festhalten kann, hinterher.
    Das Gefühl ihrer Handfläche, um seinen Finger geschlungen, fest, und ihr Puls darin, und die Wärme – so als würde er sich in sie hineinpassen, aber diskret – das würde ihnen gefallen: sie könnten überall spazieren gehen, und niemand müsste es begreifen oder nur bemerken außer ihnen.
    Das wäre etwas Erinnernswertes.
    Ein Gedanke, an dem er sich später verbrennen kann – der in seiner eigenen Handfläche schmerzen, ihn kreuzigen kann, da sie außer Reichweite ist.
    Armer Francis.
    Arme alle hier.
    Egal, wie viel Geld, wie viel sie besitzen oder besitzen wollen, von draußen bahnt sich die Kälte einen Weg herein, hat alle ihre Namen auf der Liste.
    Ich sollte sie wirklich nicht so sehr hassen.
    Und sie kämpft darum, langsamer zu werden – atmen, gehen – bis sie alle richtig sehen kann: all die albernen, abgelenkten Menschen, die wie sie sind: die sterben werden. Sie machen sich für besondere Gelegenheiten schick, sind aufgeblasen oder reizend, unpassend, gelangweilt oder langweilig, und sie werden Fehler machen und Angst haben und sich an Witzen freuen, an Leckereien und Überraschungen und vielleicht ihren Kindern, und dann werden sie damit aufhören.
    Und das macht sie wunderbar.
    Denk daran, wie selten sie sind, wie zart, wie außerordentlich – keine Chance auf Entkommen, und dennoch tun sie all das hier.
    Dafür musst du sie lieben.
    Dafür

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