Das blaue Haus (German Edition)
und einen Krankenwagen rufen müssen, wenn sie wirklich unschuldig war. Doch nichts dergleichen hatte sie getan.
Ragee überlegte, ob er sie vielleicht anrufen sollte. Das würde vieles klären, aber er fühlte sich zu müde und zu feige – viel zu feige. Mit welchem Recht sollte er ihr gegenüber Vorwürfe aussprechen, wenn er nicht einmal die Vorwürfe sich selbst gegenüber bewältigten konnte?
Ein Rätsel blieb ihm Sarah. Hatte Dane etwa doch recht?
Lebte Sarah noch? Was für ein sinnloser Krieg hatte dann in den letzten Wochen stattgefunden?
In Ragee drehte sich plötzlich alles. Es fiel ihm immer noch schwer, Danes Recht vor Julies zu stellen, aber Dane war zumindest nicht vor den Problemen weggelaufen.
Mai 1997. Grand Junction. Sinclairroad. Bei Julie.
Als Julie aus der Dusche kam, wusste sie nicht, in welche Ecke sie sich drücken sollte. Sie durchlief ziellos ihre Wohnung und suchte nach einem Halt, den sie jedoch nicht finden konnte. Sie ließ die Rollos herunter, obwohl draußen keine Sonne schien. Sie verspürte den starken Drang, in Salina anrufen, aber sie war mit der gleichen Feigheit wie ihr Pflegevater Raimund Geers geschlagen. Selbst wenn das Telefon bei ihr jetzt klingeln würde, wusste sie nicht, ob sie den Mut haben würde, abzuheben. Sarah, die in den letzten Monaten die Hauptrolle in ihrem Leben gespielt hatte, wurde verschwindend klein gegen die Angst, die sie jetzt vor Dane und Ragee verspürte. Für Dane war sie nun zu einem neuen Opfer geworden, ... das machte ihr am meisten Angst.
Mai 1997. Golden/Denver. Bei Sarahs Eltern.
Sarah stand den ganzen Tag nicht mehr auf. Es fehlte ihr einfach die Kraft und Lust. Sie lag in ihrem einstigen Zimmer im Hause ihrer Eltern und teilte die Einsamkeit mit den Erinnerungen, die ihr zu einem Albtraum geworden waren. Ihr Bauch war nicht so groß, wie sie es sich im achten Monat vorgestellt hatte. Immer noch konnte sie ihn geschickt unter ihrer Kleidung verstecken.
Dr. Synacha hatte mehrmals angerufen und nach Sarahs Befinden gefragt, aber es war nur ein ergebnisloses Gespräch mit ihrer Mutter geblieben. Sarah hatte gehörte, wie ihre Mutter mit ihr gesprochen hatte. Sie selbst hatte kein Verlangen mehr nach ihrer Ärztin. Sie lag in ihrem Bett und starrte an die Zimmerdecke, die sie einst mit Postern beklebt hatte. Jetzt waren die Poster weg und alles war weiß gestrichen. Sie überlegte, wen sie in ihrem Leben überhaupt noch hatte. Julie rief seit vielen Tagen nicht mehr an, obwohl sie sich sonst täglich gemeldet hatte. So war auch sie gegangen, wie Sarah gleichgültig feststellte.
Sie spürte, wie die Senkwehen wieder einsetzten. Das Kind zog sich nach unten – jeden Tag mehr. Sie konnte es nicht mehr aufhalten, sosehr sie es sich auch wünschte. Es ließ sich nichts befehlen. Was sollte es nur für eine Mutter bekommen?
Die Wehen zogen heftig. Sarah stöhnte, etwas, das sie in letzter Zeit wirklich gut konnte – anstatt zu reden.
Sie wusste nichts von dem Gespräch zwischen ihren Eltern, die sich seit einigen Tagen schon beratschlagten, ob sie ihre Tochter wieder in eine Klinik bringen sollten – zu ihrem eigenen Schutz und dem des Kindes natürlich. Sie war als werdende Mutter kaum noch tragbar ohne ärztliche Hilfe.
Ihr Vater Ben Newshorn hatte nur ratlos die Schultern gezuckt, so wie er es immer tat, wenn seine Frau letztendlich doch alles selbst entscheiden würde. Sie nannte es dann ein Gespräch mit ihm. Er hatte seine Worte und Meinungen während der 39jährigen Ehe mit Elisabeth Newshorn ziemlich verloren und für Sarah nie das richtige Gespür gehabt.
Ben Newshorn arbeitete als Prokurist bei Mountain View. Er war gewissenhaft und immer zuverlässig. Zu Hause erledigte er alle anfallenden Arbeiten im Haus sorgfältig und unkompliziert. Aber damit hörte sein Engagement für die Familie auch schon auf, dafür hatten die vielen Diskussionen seiner Frau gesorgt.
Er fand weder Worte des Trostes für seine Tochter noch eine Möglichkeit, ihr aus der Depression zu helfen. Er mochte Julie nicht. Und damit stand er mit seiner Meinung wieder einmal ganz alleine. Er hatte Dane gemocht und war über die Vorfälle, die sich im letzten Jahr ereignet hatten, schockiert gewesen. Doch er konnte auch darüber hinaus seine Sympathie für ihn nicht leugnen. Ben Newshorn wusste, wie ähnlich seine Tochter ihm war.
Elisabeth Newshorn hatte eine Nervenklinik für Sarah in Betracht gezogen. Gott, wie sehr er seine Frau dafür hasste! Es war, als hätte sie
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