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Das blaue Siegel

Das blaue Siegel

Titel: Das blaue Siegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Twardowski
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geschah, erklärte der Angakok , wenn ein Mann seiner Jagdbeute nicht genug Ehre erwiesen hatte, etwa tötete, ohne die Tiere um Verzeihung zu bitten und ihre Geister an sein Feuer einzuladen. Der König der Walrosse tauchte dann unter das Eis, auf dem der Mann stand, durchbrach es, selbst wenn es dick war, und nahm den Mann mit in die Tiefe. Das war im Frühling geschehen, auf der ersten Jagd, als alle Hunger hatten, und zweifellos hatte Kenualiks Mann sich durch den Hunger verleiten lassen, die Jagdrituale nicht einzuhalten.
    Kenualik wurde mit einem grausamen Tabu belegt: Sie durfte einen Sommer lang kein Tier anfassen; keine frischen Häute, Felle, Sehnen, auch kein Fleisch. Das machte sie für den größten Teil der Arbeit im Lager untauglich, denn nahezu alles, was die Eskimos herstellten, hatte mit Tieren zu tun – es gab kein anderes Material.
    Genäht wurde mit Sehnen und Knochennadeln, gekocht mit Tran. Ihre gesamte Kleidung bestand aus Fellen; Robbenfellen im Sommer, weil sie wasserdicht waren, Karibufellen im Winter, weil sie die beste Kombination zwischen Wärme und Leichtigkeit boten. Ihr Regenzeug und viele ihrer Behältnisse bestanden aus Robbendärmen, Tierblasen, und noch die leichten Schuhe, die man in den Winterstiefeln trug, wurden aus Vogelbälgern gemacht, deren Inneres nach außen gestülpt war. Selbst die Kufen ihrer Schlitten bestanden aus Saiblingen, die, Kopf an Schwanz, fest in die nasse, harte Haut der Bartrobbe gewickelt wurden und – einmal gefroren – wunderbar leicht über den Schnee glitten.
    Gelenkfett, Knochenmark, Blut – als Schmier-, Brenn-oder Klebstoff – waren für Kenualik unantastbar. Nur die alten Felle durfte sie berühren, ihre Kleidung, die Zelte, die Decken. Sie konnte schleppen, ziehen, tragen, konnte beim Auf- und Abbau des Lagers helfen, die Umiaks oder Frauenboote rudern und Feuer machen. Aber sie durfte ihre eigene Nahrung nicht zubereiten oder zerschneiden und überlebte nur, weil der Angakok ihrer Mutter und Schwester ausdrücklich befahl, sie von Mund zu Mund zu füttern, so, wie man es in guten Jahren mit den Alten machte, die keine Zähne mehr hatten. Sie fühlte sich nutzlos, passte jetzt viel auf die Kinder auf, spielte mit ihnen, ohne sie zu berühren, Fantasiespiele, und wurde beinahe selbst wieder zu einem Kind.
    Aber das Tabu traf sie in einer anderen Hinsicht vielleicht noch härter: Der Angakok bestimmte, dass kein Mann des Stammes bei Kenualik liegen dürfe, bis der König der Walrosse wieder versöhnt sei. Da kam zur Trauer die Sehnsucht, denn ihr Mann war ihr erster Mann gewesen, und sie vermisste seinen Körper, wie ihre Augen im Winter die Sonne vermissten.
    Dann, am Ende des Sommers, mit dem ersten Schnee, kamen die Boote der Kabloonas . Der junge Mann mit dem schwarzen Zopf gefiel ihr sofort. Ihre Brüste, die noch so jung und fest waren, obwohl sie ihr Kind seit einem Jahr stillte, zogen sich zusammen, wenn sie ihn ansah. Er war kein Mann ihres Stammes, der Sommer war vorbei, und als der Angakok  – der mit dem einzigen Kabloona , der reden konnte, über die Sonne sprach – kurz, aber freundlich Takka unna! sagte, wusste sie, dass der König der Walrosse nun versöhnt war.
     

44.
     
    Gowers beneidete seinen Anwalt ein wenig: Er würde als Held zu seiner kleinen Frau zurückkehren. Sie würde ihm die Stiefel von den Füßen ziehen, zwei kühle Hände auf seine müden Augen legen, die schreckliche, einsame Nacht auf der Mauer einfach wegstreicheln, wegküssen und in der Dämmerung nackt und warm in den Armen ihres erschöpften Mannes einschlafen.
    Derlei quälende Vorstellungen von liebevoller Nähe überfielen den Investigator immer noch hin und wieder – sieben Jahre nach Deborahs Tod und all den Huren, kurzen, heftigen Begegnungen, die er in dieser Zeit erfahren hatte. Es war die verzweifelte Sehnsucht nach einem Moment des Friedens im endlosen Krieg, in dem er mit der Welt, den Menschen und sich selbst lag. Aber dann fielen ihm wieder die Hände der gefolterten Frau ein, die er gesehen hatte, und die Frage, welchen Anteil die schöne Leibwächterin an diesen Wunden haben mochte, ließ ihn beben vor Hass. Gegen vier Uhr morgens im Watson’s Esplanade Hotel angekommen, ließ er sich deshalb von einem für seinen Berufsstand reichlich verschlafenen Nachtportier eine Flasche schottischen Whisky geben und trank schon auf der Treppe, auf dem Weg in sein Zimmer.
    Ishrat musste mit aller Kraft in ihren Fesseln getobt haben, denn

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