Das blaue Zimmer
Schatten auf das Gras. Hinten fiel der Garten zum blauen Wasser des Meeresarms ab. Hinter der Fuchsienhecke waren die Masten der Fischerboote und das steile Dach von Großvaters Haus zu sehen. Laurie dachte an Zauberei und die Launen der Zeit; man müßte die Uhr zurückdrehen können. Wieder zwölf Jahre alt sein, in Shorts und Turnschuhen mit dem Badetuch unterm Arm über den Rasen rennen, um Groß vater zu ihrem täglichen Ausflug an den Strand abzuholen. Oder um mit der kleinen Bahn in die Stadt zu fahren, wo er sich mit Tabak und Rasierklingen eindeckte und Laurie ein Hörn chen Eis kaufte; und sie würden sich im Sonnenschein an die Hafenmauer setzen und den Männern bei der Arbeit an ihren Booten zusehen.
Auf der Straße hielt ein Auto vor dem Haus. Laurie hörte das Knirschen von Kies, eine Tür schlug, doch sie achtete nicht weiter darauf; sie nahm an, daß es etwas mit der Hochzeit zu tun hatte – ein in letzter Minute engagierter Barmixer oder der Briefträger mit Grußtelegrammen für das glückliche Paar. Dann aber ging die Haustür auf, und eine Männerstimme rief: „Ist jemand da?“ Es war unverkennbar William Boscawan, der Trauzeuge.
Er war der letzte Mensch, den sie sehen wollte. Laurie erstarrte, sie verhielt sich still und stumm wie ein Schatten. Sie hörte ihn durch die Diele gehen und die Küchentür öffnen. „Niemand zu Hause?“
Sie ging lautlos in den heißen Garten und überquerte den Rasen. Der Wind fing sich in ihrem langen, dünnen Rock und blies den luftigen Stoff gegen ihre Beine, und die Sohlen der neuen Sandalen rutschten etwas auf dem trockenen Gras. Sie kam zu dem Gatter in der Fuchsienhecke, und niemand rief sie zurück. Sie öffnete das Gatter und ging den Weg entlang zu dem Zedernhaus.
Die Tür war unverschlossen. Sie war nie abgeschlossen ge wesen. Laurie ging hinein und roch den Duft der Zederntäfe lung, von Tabakrauch und einem Hauch von dem Pimentöl, das der alte Herr immer für seine Haare benutzt hatte. Der kleine Flur war vollgehängt mit Fotografien von den Schiffen, die er befehligt hatte. Sie sah seinen riesigen birmanischen Tempelgong und die Geweihe der Weißschwanzgnus, die er einst in Südafrika erlegt hatte. Sie öffnete die Tür zu seinem Wohnzimmer und ging hinein, und sie sah die abgenutzten Perserteppiche, die durchgesessenen Ledersessel. Es war sehr warm; eine Schmeißfliege brummte auf der anderen Seite des Zimmers am geschlossenen Fenster. Sie ging hinüber, entriegelte das Fenster und schob es auf. Ein Luftschwall füllte das stickige, verlassene Zimmer. Laurie trat hinaus auf die Veranda; die Flut platschte zu ihren Füßen gegen die Kaimauer, und der Meeresarm war so blau wie der Himmel und mit Son nenflecken gesprenkelt.
Laurie fühlte sich mit einemmal so erschöpft, als sei sie meilenweit gelaufen. Großvaters Sessel stand neben dem Fern rohr. Sie setzte sich und breitete ihr Kleid sorgsam um sich aus, damit es nicht knitterte. Sie lehnte den Kopf zurück und schloß die Augen.
Leise Geräusche drangen in ihr Bewußtsein. Der Verkehr von der fernen Chaussee, das Platschen des Flutwassers, das Kreischen einer einzelnen Möwe. Sie dachte, wenn sie einfach nur hier sitzen könnte, allein, ungestört, den ganzen Tag lang…nicht zu der Hochzeit gehen, mit niemandem re den…
Irgendwo ging eine Tür auf. Ein Luftzug bewegte Großva ters schwere Vorhänge. Laurie öffnete die Augen, rührte sich aber nicht.
Die Tür schloß sich wieder, dann kamen Schritte durch das Haus. Im nächsten Moment erschien William an dem offenen Fenster. Er kletterte über die Fensterbank und sah auf Laurie hinunter. Selbst in diesem Augenblick des Schreckens mußte sie zugeben, daß er in seinem Stresemann mit der Trauzeugen nelke hinreißend aussah. Der steife weiße Kragen unterstrich seine Sonnenbräune, seine schwarzen Haare paßten zu dem dunklen Cut, seine Schuhe glänzten. Er war nicht hübsch zu nennen, nicht einmal gutaussehend, aber seine pure Maskuli nität, sein Lächeln, seine leuchtenden blauen Augen vereinten sich zu einer Attraktivität, die unmöglich zu übersehen war. Er sagte: „Hallo, Laurie.“
„Was machst du hier?“ fragte sie ihn. „Solltest du nicht lie ber Andrew unterstützen und sehen, daß er pünktlich zur Kir che kommt?“
William grinste. „Andrew ist überhaupt nicht aufgeregt“, erklärte er. Er ging ins Haus und kehrte mit einem Stuhl zu rück, stellte ihn Laurie gegenüber und setzte sich, die langen Beine
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