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Das blaue Zimmer

Das blaue Zimmer

Titel: Das blaue Zimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rosamunde Pilcher
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werde sie alle übrigen ausstechen. Sie war noch nicht überzeugt, als die Friseuse kam, aber diese neue Wende der Ereignisse lenkte sie zum Glück ab, und sie ließ sich nach oben führen.
    „Gut“, sagte Lauries Vater. „Es geht nichts über eine neue Frisur, um die Nerven zu beruhigen. Gleich wird sie wieder obenauf sein.“ Er strich mit der Hand über sein schütteres Haar und sah Laurie an. „Und du? Wie steht’s mit dir?“ fragte er sie. Seine Stimme klang lässig, aber sie wußte, er dachte an Großvater, und das konnte sie nicht ertragen. Ihn absichtlich mißverstehend, sagte sie: „Ich hab keinen Hut. Ich hab nur eine Blume.“ Als sie die Miene ihres Vaters sah, haßte sie sich, aber bevor sie noch etwas sagen konnte, war er mit einer Aus rede fortgegangen, und es war zu spät.
     
     
    Der Party-Service richtete in der Küche für alle ein kaltes Mit tagessen an. Die ganze Familie setzte sich an den vertrauten Tisch und aß unvertraute Speisen, Hühnchen in Aspik, Kartof felsalat und Obstdessert mit Sahne; gewöhnlich gab es bei ihnen Suppe, Brot und Käse. Nach dem Essen gingen alle nach oben, sich umziehen, und Laurie bürstete ihr seidiges Haar, wand es zu einem Krönchen und befestigte die Kamelie darin. Dann zog sie sich an, zog das lange, helle Kleid über ihren Unterrock und knöpfte die vielen winzigen Knöpfchen am Vorderteil zu. Sie befestigte eine Perlenkette im Nacken, nahm ihr Brautjungfernsträußchen und stellte sich vor den hohen Spiegel, der an der Innenseite der Tür hing. Sie sah ein Mäd chen, blaß und fremd, den Hals durch die aufgesteckten Haare entblößt, die dunklen Augen umschattet, das Gesicht aus druckslos. Sie dachte: So sehe ich aus, seit Großvater tot ist. Unberührbar, unerreichbar. Ich möchte von ihm sprechen, aber ich kann nicht. Noch nicht. Wenn ich diesen Tag überstanden habe, wenn alles vorbei ist, dann kann ich vielleicht reden. Aber jetzt noch nicht.
    Sie öffnete die Tür, ging die steile Treppe hinunter, klopfte an die Schlafzimmertür ihrer Mutter und ging hinein. Ihre Mutter saß am Toilettentisch und tuschte sich die Wimpern, bevor sie sich schließlich den verhaßten Hut vornahm. Ihre Haare, an welche die Friseuse soeben letzte Hand angelegt hatte, ringelten sich um ihren Hals. Sie sah ungemein hübsch aus. Ihr und Lauries Blick trafen sich im Spiegel. Dann drehte sie sich auf ihrem Hocker um und sah ihre jüngere Tochter lange an. Sie sagte mit einem kleinen Zittern in der Stimme: „O mein Liebling, du siehst ganz entzückend aus.“
    Laurie lächelte. „Hattest du das nicht erwartet?“
    „Doch, natürlich. Bloß, auf einmal fühle ich mich sehr mütterlich und stolz.“
    Laurie gab ihr einen Kuß. „Ich bin früh dran“, sagte sie. Und fügte hinzu: „Du siehst auch entzückend aus. Und der Hut ist richtig hübsch.“
    Ihre Mutter nahm ihre Hand. „Laurie… “
    Laurie entzog sie ihr. „Frag mich nicht, wie ich mich fühle. Sprich nicht von Großvater.“
    „Liebling, ich verstehe dich. Wir alle vermissen ihn. Wir alle haben ein großes leeres Loch im Herzen. Er sollte heute bei uns sein und ist es nicht. Aber Jane zuliebe, Andrew zuliebe, Groß vater zuliebe dürfen wir nicht traurig sein. Das Leben muß wei tergehen, und er hätte nicht gewollt, daß irgend etwas diesen Tag verdirbt.“
    Laurie sagte: „Ich werde ihn nicht verderben.“
    „Für dich ist es am schlimmsten. Das wissen wir alle.“ Sie erwiderte:
    „Ich will nicht darüber sprechen.“
     
     
    Sie ging nach unten. Alles war bereit für den Hochzeitsemp fang. Alles war unvertraut, alles war fremd. Es waren nicht nur das Haus, das unkenntliche Wohnzimmer, die Massen von Blumen und die Tische des Party-Service. Sie selbst war sich fremd. Das dünne, luftige Kleid, die zierlichen Schuhe, die Kühle am Hals, ohne die dichten Haare, die ihr sonst über die Schultern fielen. Nichts war wie vorher. Sie wußte, daß es nie wieder wie vorher sein würde. Vielleicht war dies der Anfang des Altwerdens. Wenn sie wirklich alt wäre, würde sie vielleicht zurückblicken und denken: Das war der Anfang. Das war der Tag, an dem ich aufhörte, ein Kind zu sein, der Tag, als mir bewußt wurde, daß nicht alles ewig so weitergehen konnte.
    Mit ihrem Sträußchen in der Hand trat sie durch die offene Glastür, setzte sich auf der Terrasse auf einen Stuhl und sah in den Garten. Auf dem Rasen waren kleine Tische und Stühle aufgestellt, die aufgespannten Sonnenschirme warfen dunkle runde

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