Das blaue Zimmer
gehen würden, weil Angus Geschäftsführer eines neuen Kon tors geworden war, das in Kürze in Rangun eröffnet würde. Sie wollten sich dort ein Haus suchen, und Angus wollte sich ein kleines Boot anschaffen und drohte Amita, ihr das Segeln beizubringen. Und dies rief noch mehr Heiterkeit hervor, weil Amita schwor, wenn sie ein Boot nur ansehe, sei sie schon seekrank, und das Anstrengendste, was sie je in ihrem Leben getan habe, sei das Umblättern der Seiten eines Buches gewesen.
Nach dem Tee gingen wir in den Garten. Lady Tolliver, Daisy und meine Mutter unterhielten sich, und Jassy, die Angus of fensichtlich verziehen und ihre gute Laune wiedergefunden hatte, setzte sich zu ihm und bat ihn, von Tigerjagden und Hausbooten in Kaschmir zu erzählen. Amita bat mich, ihr den Garten zu zeigen, und ich führte sie zum Rosenbeet und versuchte, mich an die Namen der verschiedenen Rosen zu er innern. „Elisabeth von Glamis, Erna Harkness, und diese kleine Kletterrose heißt Albertine. Sie duftet stark nach süßen Äpfeln.“
Amita lächelte mich an. Sie sagte: „Liebst du Blumen?“
„Ja. Fast mehr als alles andere.“
Sie sagte: „In Rangun werde ich den schönsten Garten haben, den sich irgendein Mensch jemals erträumt hat. Mit Bougainvillea und Tempelblumen und Jakarandabäumen und Stockrosen, größer als ein Mensch. Und ich werde einen grünen Rasen haben mit Pfauen und weißen Kranichen, und mit runden Teichen, von Rosen umstanden, und in dem Was ser wird sich der blaue Himmel spiegeln. Und wenn du groß bist, vielleicht siebzehn oder so, mußt du Angus und mich besuchen kommen, dann zeige ich dir alles. Wir geben Abend gesellschaften für dich und Bälle und Mondschein-Picknicks am Strand. Und junge Männer werden dich in Scharen umrin gen und sich in dich verlieben.“
Ich sah Amita an, geblendet, gebannt von der Vision von mir mit siebzehn, schön und schlank wie Amita, mit einem ansehn lichen Busen und einer sehr schmalen Taille. Ich sah die vielen Verehrer, groß und aufrecht, in prächtigen Uniformen. Ich hörte Musik und roch den schweren Duft der Tempelblumen und sah Mondlicht auf dem Wasser…
Sie sagte: „Wirst du kommen?“
Ihre Stimme zerstörte den Traum. Sie hatte ihr Lachen verlo ren. Amitas dunkle Augen glänzten von unvergossenen Trä nen. Und ich wußte, alles war Phantasie. Sie würde nie einen großen, schönen Garten in Rangun haben, weil das Leben, das sie und Angus für sich gewählt hatten, ihnen solchen Luxus nicht bieten konnte. Und ich würde sie nie besuchen. Sie würde meine Mutter nicht fragen, und selbst wenn, würde Mutter es mir nicht erlauben. Es war alles nur Schein. Sie wußte es, und ich wußte es, dennoch konnte ich es nicht ertragen, sie so trau rig zu sehen, und ich lächelte ihr ins Gesicht und sagte: „Natür lich komme ich. Ich komme gerne. Lieber als alles andere auf der Welt.“
Da lächelte sie und blinzelte die Tränen fort. Sie nahm mei nen Kopf zwischen ihre Hände und hob mein Gesicht zu ihrem empor. Sie sagte: „Eines Tages werde ich selbst ein kleines Mädchen haben. Und ich wünsche mir, daß es so süß wird wie du.“
Da waren wir uns auf einmal ganz nahe. Mir war fast, als hätte ich sie mein Leben lang gekannt und würde sie bis in alle Ewigkeit kennen. Und in diesem Moment wußte ich mit schneidender Gewißheit, daß sich alle geirrt hatten. Meine Mutter und mein Vater und die Tollivers, und ihre Eltern und davor deren Eltern. Die Vorurteile, der Snobismus, die Tradi tionen stürzten zusammen wie ein Kartenhaus, und daran hat sich seither nichts geändert.
Indem sie die Wahrheit aus einem Wirrwarr kindlicher Impressionen schälte, veränderte Amita mein ganzes Leben. Weswegen die ganze Aufregung? hatte ich mich gefragt, und die Antwort lautete: Wegen nichts. Menschen sind Menschen. Manche sind gut, manche sind schlecht, manche schwarz, manche weiß, aber wie auch immer unsere Hautfarbe oder der Unterschied im Glauben und in Traditionen, wir haben uns alle etwas zu geben, und wir haben alle etwas gemeinsam, und wenn es nur das Leben selbst ist.
Bevor sie aufbrachen, ging Amita zum Auto hinaus und kehrte mit zwei Päckchen zurück, eines für Jassy und eines für mich. Als die Tollivers fort waren, machten wir sie auf und fanden die Puppen. Solche Puppen hatten wir noch nie gesehen, so adrett und erwachsen und schön zurechtgemacht, bis hin zu den lackierten Zehennägeln an den winzigen Papiermache füßchen und den kleinen,
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