Das blaue Zimmer
waren. Sie weinte nie, und sie wollte nicht, daß Jamie sie weinen sah, darum machte sie kehrt, ließ Mrs. Cooper ste hen, ging einfach aus der Küche, denselben Weg hinaus, den sie hereingekommen waren, in den Garten, in die kalte, frische Morgenluft.
Es war überstanden. Vor Erleichterung fühlte sie sich schwerelos, ihr war, als könne sie mit einem einzigen Satz durch die Luft schweben. Sie weinte und lachte zugleich, wie lächerlich, und sie zog ihr Taschentuch hervor, wischte sich die Augen und putzte sich die Nase.
Zwölf weiße Schwäne. Sie war froh, daß sie Jamie bei sich gehabt hatte, sonst hätte sie womöglich für den Rest ihres Le bens geglaubt, der erstaunliche Anblick sei schlicht und ein fach eine Ausgeburt ihrer überdrehten Phantasie gewesen. Zwölf weiße Schwäne. Sie hatte sie beobachtet, wie sie ge kommen und verschwunden waren. Für immer verschwun den. Sie wußte, daß ihr ein so wunderbarer Anblick nie wieder beschieden sein würde.
Sie sah zum leeren Himmel empor. Er hatte sich bewölkt, bald würde es wohl zu regnen anfangen. Noch während sie dies dachte, spürte Eve die ersten kalten Tropfen auf ihrem Ge sicht. Zwölf weiße Schwäne. Sie schob die Hände tief in ihre Manteltaschen und ging ins Haus, um ihren Mann anzurufen.
Der Baum
A n einem schwülen, glühendheißen Nachmittag im Juli schob Jill Armitage den Sportwagen mit ihrem Söhnchen Robbie durch das Tor eines Londoner Parks und machte sich auf den anderthalb Kilometer langen Heimweg.
Es war ein kleiner Park, nichts Besonderes. Das Gras war platt getreten, die Wege waren von Hunden verdreckt, die Blu menbeete mit Lobelien, knallroten Geranien und eigenartigen Pflanzen mit rotebetefarbenen Blättern bestückt, aber es gab wenigstens einen Spielplatz, ein paar schattige Bäume, meh rere Schaukeln und eine Wippe.
Sie hatte einen Korb mit Spielsachen und einem bescheide nen Picknick eingepackt, der nun an den Handgriffen des Sportwagens hing. Von ihrem Sohn war nichts zu sehen bis auf sein baumwollenes Sonnenhütchen und die roten Leinenschuhe. Er trug knappe Shorts, seine Arme und Schultern hatten die Farbe von Aprikosen. Hoffentlich hatte er keinen Son nenbrand abbekommen. Er hatte den Daumen im Mund und summte vor sich hin, meh, meh, meh, wie er es immer tat, wenn er müde war.
Sie kamen zur Hauptstraße und warteten, bis sie hinüber konnten. Der Verkehr strömte zweispurig an ihnen vorbei. Sonnenlicht blinkte auf Windschutzscheiben, die Fahrer waren in Hemdsärmeln, die Luft war schwer von Auspuff gasen und Benzindunst.
Die Ampel sprang um, Bremsen quietschten, der Verkehr kam zum Stehen. Jill schob den Kinderwagen über die Straße. Auf der anderen Seite war die Gemüsehandlung, und Jill dachte ans Abendessen. Sie ging hinein, um einen Kopf Salat und ein Pfund Tomaten zu kaufen. Der Mann, der sie bediente, war ein alter Freund – das Leben in diesem heruntergekommenen Londoner Viertel war ein bißchen wie das Leben in einem Dorf –, er nannte Robbie „mein Schätzchen“ und schenkte ihm einen Pfirsich zum Abendbrot.
Jill dankte dem Gemüsehändler und zockelte weiter. Kurz darauf bog sie in ihre Straße ein, wo die georgianischen Häuser einst prachtvoll gewesen und die Bürgersteige breit und gepfla stert waren. Seit sie geheiratet hatte und in diese Gegend gezo gen war, hatte sie gelernt, sich mit dem Verfall ringsum abzu finden, den schmuddeligen Farben, den kaputten Geländern, den finsteren Souterrains mit den schmutzigen Vorhängen, den feuchten Steinstufen, auf denen Farne sprossen. Doch in den letzten zwei Jahren zeigten sich in der Straße vielverspre chende Anzeichen von Verbesserung. Hier wechselte ein Haus den Besitzer, Gerüste wurden angebracht, große städtische Container standen am Straßenrand und füllten sich mit Schutt aller Art. Dort erhielt eine Souterrainwohnung einen frischen weißen Anstrich, Geißblatt wurde in einen Topf gepflanzt und erreichte in kürzester Zeit das Geländer, umschlang es mit von Blüten überladenen Zweigen. Nach und nach wurden Fenster erneuert, Tür- und Fenstersturze repariert, Haustüren glän zend schwarz oder kornblumenblau gestrichen, Messinggriffe und Briefkästen wurden auf Hochglanz gebracht. Eine neue und kostspielige Flotte von Autos parkte am Bürgersteig, und eine vollkommen neue und kostspielige Flotte von Müttern brachte ihre Sprößlinge zur Straßenecke oder holte sie von Kinderfesten ab; die Kleinen trugen
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