Das Blut - Del Toro, G: Blut - The Fall
Teil gab es noch einige leere Stühle. Setrakian erkannte allerdings sofort, dass etliche der Anwesenden nur Statisten waren, Sotheby’s-Mitarbeiter, die man angewiesen hatte, das interessierte Publikum zu spielen. Ihre Augen verrieten sie; es fehlte ihnen das Funkeln, die fiebrige Aufmerksamkeit des wahren Interessenten. Der Zuschauerbereich zwischen den Stuhlreihen und den beweglichen Wänden, die so weit wie möglich zurückgeschoben worden waren, war hingegen bis zum Bersten gefüllt.
Bei einer Auktion geht es ähnlich turbulent zu wie auf einem Basar, nur dass die Atmosphäre in ihrer Gediegenheit eher an das Fin de Siècle gemahnte: eine letzte Zurschaustellung von Reichtum angesichts einer ungewissen Zukunft. Und so waren viele der Anwesenden wohl allein wegen des Spektakels gekommen, um dabei zu sein, wenn der Kapitalismus seinen letzten Seufzer tat - wie gut gekleidete Trauergäste bei einer Beerdigung.
Die Aufregung im Saal stieg spürbar, als endlich der Auktionator auf das Podium kam und die Auktion mit einigen Einleitungsfloskeln und einem kurzen Abriss der wichtigsten Bietregeln eröffnete. Dann klopfte er mit dem Hammer auf das Pult. Die Auktion konnte beginnen.
Die ersten Gegenstände, die zur Versteigerung kamen, waren Barockgemälde, durchaus wertvoll, doch kaum mehr als Appetithappen, ein Vorgeschmack auf das eigentliche Filetstück. Setrakian rieb sich die Augen. Warum war er nur so angespannt? Er verfügte doch nun über die gewaltigen finanziellen Mittel der Alten. Eigentlich konnte nichts mehr schiefgehen. Bald würde er das Occido Lumen in seinen Händen halten …
Aber er fühlte sich beobachtet. Jetzt, in diesem Moment. Von jemandem, der genau wusste, was er vorhatte.
Vorsichtig wandte der alte Mann den Kopf und sah sich um. Dort. Drei Reihen hinter ihm auf der anderen Seite des Mittelganges. Dunkler Anzug. Schwarze Lederhandschuhe. Grau getönte Brille.
Thomas Eichhorst.
Das Gesicht des ehemaligen Lagerkommandanten war glatt und faltenlos, ja, sein ganzer Körper wirkte erstaunlich gut erhalten. Natürlich trug er Make-up und eine Perücke … aber da war noch etwas. Hatte er sich einer Schönheitsoperation unterzogen? War irgendein wahnsinniger Chirurg auf die Idee gekommen, ihm wieder annähernd menschliche Gestalt zu verleihen, sodass er sich unerkannt unter die Lebenden mischen konnte? Obwohl die Augen des Vampirs hinter der Sonnenbrille verborgen waren, wusste Setrakian, dass sie ihn genau beobachteten.
Er war nicht einmal achtzehn Jahre alt gewesen, als sie ihn in das Lager gesteckt hatten, und so fühlte er sich in Eichhorsts Gegenwart immer wie ein kleiner Junge. Wellen von Panik fluteten durch Setrakians Körper, Magensäure schoss seine Kehle hinauf und hätte ihn fast zum Würgen gebracht. Dieses abgrundtief böse Wesen war schon in seinem menschlichen Dasein für unendlich viel Leid verantwortlich gewesen. Über sechzig Jahre war das nun her, doch Setrakian kam es vor, als sei es erst gestern gewesen.
Jetzt nickte der Vampir Setrakian zu - höflich, ach so freundlich . Er schien zu lächeln, doch es war kein Lächeln. Er öffnete nur weit genug den Mund, um Setrakian die Spitze des Stachels zu zeigen, die über die geschminkten Lippen leckte.
Der alte Mann wandte sich wieder dem Podium zu. Versuchte, seine zitternden Hände zu verbergen. Schämte sich seiner kindischen Furcht.
Natürlich war Eichhorst ebenfalls wegen des Buches gekommen. Er würde es mit Eldritch Palmers Geld ersteigern.
Für den Meister.
Setrakian suchte in seiner Weste nach den Nitroglyzerinpillen. Seine arthritischen Finger verkrampften sich. Nein, er durfte sich die Angst nicht anmerken lassen; diese Kreaturen ernährten sich von Angst. So unauffällig wie möglich schob er sich eine Pille unter die Zunge und wartete, bis ihre Wirkung einsetzte. Bis zum letzten Atemzug würde er gegen diese Ungeheuer kämpfen.
Dein Herz ist schwach, Schreinerjunge.
Setrakian versuchte, nicht auf die Stimme in seinem Kopf zu reagieren. Versuchte, sie auszublenden. Vor seinen Augen verschwanden zuerst das Podium, dann der Auktionssaal, dann Manhattan, dann der gesamte nordamerikanische Kontinent, und plötzlich sah er den Stacheldraht des Lagers vor sich. Sah die Blutpfützen im Schlamm und die ausgemergelten Gesichter seiner Mithäftlinge. Sah Thomas Eichhorst auf seinem Lieblingspferd sitzen. Das Tier war das einzige Lebewesen im Lager, für das der Kommandant so etwas wie Zuneigung empfand. Er genoss es,
Weitere Kostenlose Bücher