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Das Blut der Azteken

Das Blut der Azteken

Titel: Das Blut der Azteken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gary Jennings
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ein erwachsener Mann. In meiner jugendlichen Phantasie stellte ich sie mir als die riesigen Kronen aztekischer Gottheiten vor. Einige Pflanzen wie der Mais, der uns am Leben erhielt, verfügten über Macht. Die Agave war die Kriegerin der Pflanzenwelt, nicht nur weil sich ihre großen, schlanken Blätter wie ein Bündel von Speeren erhoben, sondern auch wegen der Wirkung ihres Nektars und der vielen Verwendungsmöglichkeiten für ihr Fleisch.
    Wie eine Frau, die kochen, nähen, Kinder großziehen und einen Mann erfreuen konnte, versorgte die Agave die Indios mit Material für grobe Stoffe, Decken, Sandalen und Taschen. Aus den Dornen stellte man Nadeln her, mit den getrockneten Blättern deckte man Dächer und benützte sie als Brennmaterial. Doch genau wie eine Frau, die sich um das Lebensnotwendige kümmert, konnten Agaven einem auch die Sinne rauben.
    Im fleischigen Inneren der Pflanze befand sich, geschützt von den langen Speeren, das Honigwasser. Dieses war jedoch nicht wegen seiner Süße begehrt -ganz im Gegenteil, denn die weißliche, trübe Flüssigkeit war sauer. Unmittelbar der Pflanze entnommen und unvergoren, schmeckte es für mich wie Sumpfbrühe. Vergoren erinnerte es an saure Ziegenmilch, nur mit dem Unterschied, dass es einen schneller berauschte als spanischer Wein.
    Das Honigwasser nannten wir pulque, meine Vorfahren, die Azteken, bezeichneten es als octli, den Trank der Götter.
    Die Agave wächst langsam und trägt nach etwa zehn Jahren zum ersten Mal Blüten. Dann schießt aus der Mitte ein langer Stiel hervor wie ein Schwert. Die Indios, die die Pflanzen züchteten, kannten sich aus. Wenn der Zeitpunkt gekommen war, kletterte ein Mann zwischen den dornigen Blättern in die Pflanze, öffnete sie in der Mitte und fing den frischen Saft auf.
    Jede Pflanze lieferte ungefähr ein Dutzend große Portionen pulque täglich und konnte einige Monate lang angezapft werden.
    Der reine vergorene Saft hieß pulque blanco. Meine aztekischen Vorfahren reicherten ihn mit einer Baumrinde namens cuapatle an. Pulque amarillo war gelber Saft, vermischt mit braunem Zucker. Weil das Getränk dadurch sehr stark wurde, verbot König Felipe den Zusatz von cuapatle und Zucker, doch die Indios scherten sich nicht darum.
    Meine Vorfahren verehrten den pulque, da Quetzalcóatl, ›Gefiederte Schlange‹, ihn trank. Wie in der griechischen Mythologie entstand pulque aus einer unglücklichen Liebe. Gefiederte Schlange verliebte sich in Mayahuel, ein schönes Mädchen, das die Enkelin einer der Tzitzimimen, der Sterngeister, war. Er überredete sie, mit ihm fortzulaufen. Als Quetzalcóatl und Mayahuel die Erde erreichten, verbanden sie sich miteinander und verwandelten sich gemeinsam in einen Baum.
    Die Tzitzimimen verfolgten sie. Diese Dämonen waren die schrecklichsten aller Wesen und gingen in den Nächten um, böswillige weibliche Geister, die in Gestalt von Sternen die Menschen auf der Erde beobachten. Aus Hass auf alles Lebendige brachten sie Plagen und Katastrophen über die Menschheit - Krankheiten, Dürreperioden und Hungersnöte. Während einer Sonnenfinsternis versuchten sie, die Sonne zu stehlen, was dazu führte, dass die Azteken viele hellhäutige Menschen opferten, um die Sonne mit frischem Blut zu stärken.
    Die Großmutter von Mayahuel erkannte ihre Enkelin als Teil des Baumes, riss sie heraus und warf sie den anderen Dämonen zum Fraß vor. Bedrückt beerdigte Quetzalcóatl die Überreste seiner schönen Mayahuel. Aus ihnen entsprang die Agave, die den berauschenden pulque hervorbringt, ein Geschenk, das uns Menschen Freude spendet, so wie Quetzalcóatl und Mayahuel einander glücklich machten.
    Falls die Aztekengötter wirklich pulque getrunken hatten, war das meiner Ansicht nach der Grund dafür, dass sie dem spanischen Gott unterlegen waren.
    Die Indios liebten dieses Getränk und verabreichten es sogar ihren Kindern. Allerdings duldeten die Azteken keine Trunksucht, und wenn ein Erwachsener in der Öffentlichkeit berauscht angetroffen wurde, schnitt man ihm das Haar ab. Beim zweiten Mal wurde sein Haus zerstört, und beim dritten Mal wurde er getötet. Wenn der Alcalde diese Sitte in Veracruz eingeführt hätte, wären binnen einer Woche weder Indios noch Mestizen übrig gewesen.
    Bruder Antonio bedauerte die Trunksucht der Indios sehr. »Sie trinken, um ihr Elend zu vergessen«, pflegte er zu sagen. »Und sie trinken anders als die Weißen. Meine spanischen Freunde überlegen sich, wie viel sie trinken.

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