Das Blut der Azteken
durchzuschlagen, war das die einzige Welt, die ich kannte. Die Angst vor dem Fremden und Unbekannten trug noch zu meiner Verwirrung und Bestürzung bei.
Die Straße nach Jalapa führte in südwestlicher Richtung aus der Stadt, verlief zunächst durch die Sanddünen und Sümpfe und entlang der Lagunen und erstreckte sich dann in sanfter Steigung die Berghänge hinauf. Nachdem man die heißen Dünen und die Sümpfe hinter sich gelassen hatte, wurde die Luft in den Bergen rasch kühler.
Wenn Markt war, waren auf dieser Straße lange Kolonnen von Packtieren unterwegs. Gleich hinter Veracruz schloss ich mich einer Mulikarawane an, in der Hoffnung, man würde mich für einen der Treiber halten. Der Führer der Kolonne von zwanzig Tieren, ein Spanier, ritt auf einem Maultier an der Spitze. Vier Indios bewachten die Seiten. Der Indio, der hinten ging, blickte mich finster an.
Ich folgte der Karawane aus der Stadt hinaus. Während des Vormittags wurde es immer heißer, und am Mittag hatten sich die Dünen in ein glühendes Inferno verwandelt.
Meinen Strohhut hatte ich im Armenhaus vergessen, und so brannte mir die Sonne ein Loch ins Gehirn, als ich gesenkten Kopfes dahintrottete. Ich war krank vor Angst. Früher schon war ich mit Bruder Antonio in den Dünen gewesen, wenn wir eine Dorfkirche auf einer benachbarten Hacienda besuchten. Beim Marsch durch die Gluthitze hatte mir Bruder Antonio von den ›Gummimenschen‹ erzählt, die noch älter und mächtiger gewesen waren als meine Vorfahren, die Azteken.
»In der Legende heißt es«, sagte er, »dass die Gummimenschen Riesen und aus der Paarung einer Frau mit einem Jaguar hervorgegangen waren. An den Statuen aus dieser Zeit, deren Köpfe größer sind als der eines erwachsenen Mannes, erkennt man, dass sie gewaltig gewesen sein müssen. Sie haben eine geheimnisvolle Zivilisation namens Tamoanchán, das Land des Nebels, begründet. ›Kostbare Federblume‹, Xochiquetzal, eine Aztekengöttin der Liebe, lebte dort.«
Obwohl Bruder Antonio nicht an von Menschenfrauen und Jaguaren gezeugte Riesen glaubte, konnte er spannend erzählen und wedelte dabei theatralisch mit den Händen.
»Mann nennt sie Gummimenschen, weil sie aus dem Harz der Bäume in dieser Gegend harte Gummibälle herstellten. Dann traten sie in Mannschaften auf Spielfeldern so groß wie ein Turnierplatz gegeneinander an. Ziel des Spiels war es, den Ball hinter die Linien der gegnerischen Mannschaft zu stoßen, ohne dabei die Hände zu benutzen. Man durfte ihn nur mit Hüften, Knien und Füßen antreiben. Der Ball war so hart, dass er einen Menschen töten konnte, wenn er ihn am Kopf traf.«
»Starben viele Menschen bei diesem Spiel?«, fragte ich.
»Eigentlich immer. Die Verlierermannschaft wurde anschließend den Göttern geopfert.«
Er erklärte mir, dass niemand wisse, was aus den Gummimenschen geworden sei. »Mein Bischof behauptet, Gott habe sie vernichtet, weil sie heidnische Sünder gewesen seien. Als ich mich daraufhin erkundigte, warum die übrigen heidnischen Sünder auf der ganzen Welt nicht dasselbe Schicksal erlitten hätten, wurde er wütend.«
Ja, die Ausflüge zur Hacienda, die ich mit Bruder Antonio unternommen hatte, waren vergnüglich gewesen. Doch jetzt, auf dieser Reise, waren Angst und Trauer meine ständigen Begleiter.
9
Am Mittag machte die Karawane an einem Gasthof Halt, um den Tieren eine Rast zu gönnen und etwas zu essen zu kochen. Andere Karawanen und Reisende waren bereits dort.
Ich besaß noch die beiden Reales, die der Räuberpoet mir gegeben hatte, und außerdem ein paar Kakaobohnen. Diese Kakaobohnen waren die traditionelle Währung der Indios und wurden von ihnen immer noch zum Bezahlen benutzt. Der Grund war, dass sie mit den spanischen Münzen nichts anzufangen wussten, denn es fiel ihnen schwer, einer Sache Wert beizumessen, die man weder essen noch einpflanzen konnte. Obwohl inzwischen auch Münzen aus Kupfer und Silber im Umlauf waren, legten die Indios weiterhin großen Wert auf Kakaobohnen, denn Kakao galt als das köstlichste aller Getränke.
Der Gasthof bestand aus zwei mit Stroh gedeckten Lehmhütten, in denen zwei Indiofrauen über einem offenen Feuer kochten. Nach zähen Verhandlungen gab ich sechs meiner zwölf Kakaobohnen für eine große, mit Schweinefleisch und Chilischoten gefüllte Tortilla aus.
Ich legte mich in den Schatten, um sie zu verspeisen. Obwohl ich die ganze Nacht auf den Beinen gewesen war, fand ich keine Ruhe, denn dauernd stand mir
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