Das Blut der Azteken
zumindest für uns Arme -überflüssig abzuschließen. Wahrscheinlich wäre ein Schloss das einzig Stehlenswerte gewesen. Der Sturm ließ das ganze Haus erbeben. Allerdings hatte es schon einige el nortes überstanden und würde sicher auch diesem trotzen. Jedenfalls waren die Überlebenschancen des Gebäudes besser als meine eigenen - oder die von Bruder Antonio, dem einzigen Vater, den ich je gekannt hatte.
Ich betrat das stockfinstere Zimmer, setzte mich in eine Ecke und weinte lautlos vor mich hin. Dabei stand mir das Bild vor Augen, wie der Dolch wieder und wieder in den Leib des Bruders gefahren war. Ich wurde es einfach nicht los.
Dann hielt ich das Kruzifix hoch, den einzigen Wertgegenstand, den ich besaß und der, wie Bruder Antonio behauptet hatte, von meiner Mutter stammte. Ich betrachtete Christus an seinem Kreuz und schwor, dass die Rache eines Tages mein sein würde - nicht die des Herrn.
Erst am Morgen des nächsten Tages kehrte Beatriz vom Markt zurück und war überrascht, mich hier in ihrem Zimmer vorzufinden. »Alle wissen es«, sagte sie. »Es hat sich auf der Straße herumgesprochen. Du hast Bruder Antonio ermordet. Und davor hast du einen Mann auf dem Markt umgebracht.«
»Ich habe niemanden umgebracht.«
»Hast du Beweise? Zeugen?«
»Ich bin ein lépero. Die Mörder waren in beiden Fällen Sporenträger. Niemand würde mir glauben, und wenn die Jungfrau Maria selbst Zeugnis für mich ablegte.«
Was galt das Wort eines Mestizen schon? Selbst Beatriz, die eigentlich auf meiner Seite stand, bezweifelte, dass ich die Wahrheit sagte. Von Kindheit an hatte man ihr eingetrichtert, dass Spanier unfehlbar und Mischlinge die geborenen Lügner seien. Wenn ein Spanier mich für schuldig hielt, musste es also den Tatsachen entsprechen. Außerdem hatte sie Bruder Antonio sehr gern gehabt.
»Es heißt, du hättest Bruder Antonio ermordet, weil er dich beim Diebstahl von wohltätigen Spenden ertappt hat. Man hat auf deinen Kopf einen Preis ausgesetzt.«
Ich versuchte, ihr zu erklären, was geschehen war, doch es klang so wirr, dass ich es selbst nicht sehr glaubwürdig fand. Und ich erkannte an Beatriz' Blick, dass auch sie mir kein Wort abnahm. Aber wer sollte mir trauen, wenn nicht einmal sie es tat?
Sie ging mit einem Beutel Mais hinunter auf die Straße, um Tortillas zu backen. Dass man mich des Mordes an dem besten Menschen beschuldigte, den ich je gekannt hatte, verletzte mich tief. Ich hatte keine Lust, das Zimmer zu verlassen oder anderen Leuten zu begegnen.
Also lief ich im Zimmer auf und ab und beobachtete durch die Fensteröffnung Beatriz, die unten die Tortillas zubereitete. Nach einer Weile trat ihr Hauswirt vor die Tür und wechselte ein paar Worte mit ihr. Ich wich vom Fenster zurück, damit er mich nicht entdeckte, was ein guter Einfall war. Denn im nächsten Moment blickte er mit zweifelnder Miene nach oben und eilte dann die Straße hinunter.
Natürlich kränkte es mich, dass Beatriz meinen Bericht so aufgenommen hatte, obwohl ich ihr keinen Vorwurf daraus machen konnte. Was hätte ich gesagt, wenn sie mir anvertraut hätte, sie werde wegen zweier Morde gesucht? Doch die Lage schien sich inzwischen noch zuzuspitzen: Dieses faule, fette Schwein von einem Hauswirt bewegte sich nämlich nie, und nun rannte er die Straße entlang, als stünde seine Hose in Flammen.
Beatriz drehte sich um und starrte zum Fenster hinauf. Als ich mich zeigte, malten sich Schuldbewusstsein, Verwirrung, Angst und Wut in ihrem Blick, was meine ärgsten Vermutungen bestätigte. Sie hatte mich verraten.
Ich beugte mich aus dem Fenster und sah, dass der Hauswirt am Ende der Straße mit drei Reitern sprach. Es hätte gar nicht schlimmer kommen können: Ihr Anführer war Ramón.
23
Ich floh aus dem Haus und kletterte über die Dächer in eine Seitengasse hinunter. Hinter mir schrien Männer, verfolgten mich und schlugen Alarm. Ich hörte, wie wütend sie waren, und das mit gutem Grund. Bruder Antonio war sehr beliebt gewesen, während ich nur ein dahergelaufener lépero war - ein Angehöriger eines Menschenschlages, den jeder verabscheute und von dem es hieß, dass er für ein paar Kakaobohnen seine eigene Mutter verkaufen würde.
Veracruz war viel kleiner als Mexiko-Stadt, laut Bruder Antonio die größte Stadt in der Neuen Welt, und hatte nur ein paar tausend Einwohner. Ich pirschte mich durch eine Gasse im Zentrum, nicht weit entfernt von dem Platz, an dem die wohlhabenden Bürger lebten. Ich musste die
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